Phänomen Tracht: Heimat im Gewand?

 

Eine Reportage von Uwe Lenders

 

Es ist ein schöner Sommertag im oberbayerischen Bad Tölz. Steven, ein 27jähriger US-Amerikaner aus Chicago (Illinois), sitzt vor einem Café in der Innenstadt und betrachtet bei einem kühlen Bier das Treiben. Der junge Mann ist zum ersten Mal zu Besuch in Bayern. Seine Vorfahren stammen jedoch aus der Gegend. Trotzdem fühlt sich der Amerikaner in seiner uralten, speckigen Lederhose, die er extra angezogen hat, etwas unsicher.

Detailfoto einer oberbayerischen Lederhose
Foto: Pixabay

Die Hose sei ein altes Familienstück, die sein Großvater einst trug. Dieser hat sie Steven‘s Vater geschenkt, als er Ende der 60er Jahre in die USA auswanderte, als Erinnerung an die alte Heimat.

Jetzt gehört die Lederhose Steven und für den Mann aus Chicago hat sie eine ganz besondere Bedeutung: Sie ist ein Stück Verbundenheit zur Tradition seiner deutschen Vorfahren und nicht nur ein Kleidungsstück. Steven will mehr über die Tradition der Hose erfahren. Nicht aus dem Internet, sondern vor Ort. Der 27-jährige schaut sich verwundert um. Niemand trägt im oberbayerischen Bad Tölz Lederhosen oder Dirndl. „Ich dachte das wäre in Deutschland normal?“ lacht er. „Alpen, Bier und ganz besonders Lederhosen und Dirndl stehen doch in der ganzen Welt als typisches Bild für Bayern.“

Kinder in Tracht beim Almabtrieb in Oberbayern
Foto: Pixabay

Eine Reise in die Vergangenheit

Schild Trachten Informationszentrum, Benediktbeuern

Deshalb beschließt Steven der Bedeutung seiner Hose auf den Grund zu gehen. Ganz in der Nähe, in Benediktbeuren, gibt es ein altes Kloster und in ihm das Trachten-Informationszentrum (TIZ) mit einem riesigen Fundus an Trachten, Dokumentationen und Informationen. Alexander Wandinger ist der Leiter des TIZ. Schon zu Schulzeiten hat sich der Bayer mit Tracht, Tradition und deren Historie befasst und so den Grundstein zu dieser weltweit einmaligen Sammlung gelegt. Stevens alte Lederhose macht den Trachten-Fachmann neugierig.

„Wo haben Sie die denn her? So ein schönes, altes Stück sieht man auch nicht alle Tage“, staunt Alexander Wandinger und erzählt von den Anfängen der Tracht und räumt so gleich mit Klischees auf: „Die bayerische Tracht ist nicht traditionell. Zumindest nicht über Jahrhunderte. Die Landbevölkerung trug diese früher nicht. Sie war oft zu unbequem für die tägliche Arbeit und auch sehr teuer.“ Eine Lederhose kostete um 1900 durchaus das Jahresgehalt eines Knechtes. Die Tracht, allen voran die Gebirgstracht, etablierte sich erstmals in Gruppierungen, in denen sich Menschen aus unteren Gesellschaftsschichten zusammenschlossen: Knechte, Tagelöhner, Bergleute. „Sie alle waren auf der Suche nach Identität, Gemeinsamkeit und einer Art Heimat. Dies wollten sie auch über ein einheitliches Erscheinungsbild erreichen.“ Daraus entwickelten sich Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten Trachtenerhaltungsvereine. Wandinger: „Da viele Arbeiter aus anderen Regionen Deutschlands oder dem Ausland kamen, nahmen sie diese Vereinskultur oft in ihre Heimat mit.“ So hätten sie zur Verbreitung der bayerischen Gebirgstracht über die Grenzen Bayerns hinaus beigetragen.

Mann und Frau in bayerischer Tracht
© CC: Usien

Eingangsschild Bayerischer Landesverein für HeimatpflegeAuch Michael Ritter, vom Bayerischen Landesverein für Heimatpflege, den Steven zufällig in einem Münchner Biergarten trifft, berichtet, dass man zur Gründungszeit Bayerns im Jahre 1806 weit entfernt von einer gemeinsamen Identität der einzelnen Bevölkerungsgruppen gewesen sei. Er gibt dem Amerikaner Steven eine Geschichtsstunde. „Den Wittelsbachern missfiel dies. König Maximilian II. proklamierte Mitte des 19. Jahrhunderts einen Trachtenerlass und wurde so zum besonderen Förderer. Er wollte zur Hebung des bayerischen Nationalgefühls beitragen und eine Identität schaffen. Heute wäre das eine gelungene Marketingkampagne.“ Seit rund 150 Jahren sind Trachtenvereine weit verbreitet. „Nach dem 1. Weltkrieg und mit dem Aufkommen des Tourismus bediente man vor allem in Oberbayern immer mehr die Nachfrage und das Klischee der Tracht tragenden Landbevölkerung“, so Heimatpfleger Ritter.

Blaskapelle Oberbayern
Foto: Pixabay

Bis dahin trugen selbst Musikgruppen vom Tegernsee eher schwarze Anzüge als Tracht. „Es entwickelte sich zu einem Phänomen und ab den 1960er Jahren auch zu einer Modeerscheinung. Vieles, was wir heute im Alltag mit Tracht in Verbindung setzen, ist fiktiv und keine Tradition, wie zum Beispiel die Bedeutung der Schleife am Dirndl.“ Steven ist verwundert. „Nach vielen Jahren der Trachtenabstinenz ist in den letzten 15 Jahren die Zahl der Lederhosen- und Dirndl-Träger wieder stark gestiegen. Darin liegt auch eine Chance zur Renaissance dieser Kleidung“, so Ritter. „Viele tragen die bayerische Tracht wieder aus Überzeugung. Nicht nur zum Oktoberfest, sondern auch bei Familienfeiern, Hochzeiten und sonstigen Festen. Man ist stolz auf seine Heimat und bringt es mit der Tracht zum Ausdruck.“

Lederhose ist textilgewordenes Heimatgefühl

Menschen in Dirndl und Lederhose auf dem Oktoberfest München
© CC: Usien

Heimatpfleger Michael Ritter begründet das mit der schnelllebigeren und anonymeren Lebensweise – vor allem der Städter. Die urbane Gesellschaft verliere zusehend an Gemeinschaft, an verbindlicher Zugehörigkeit und ist daher auf der Suche nach Halt und passendem Ersatz: nach echtem Heimatgefühl. Die Tracht stehe stellvertretend dafür. „Sie fungiert somit als eine Art textil gewordener Ausdruck von Heimatgefühl und Verbundenheit“, erklärt Ritter.

So sehr die Tracht zunehmend auch in den Städten an Wert und Ansehen gewinnt, so selten ist sie im Alltag zu finden. Auch auf dem Land. Ausnahmen sind, insbesondere in Oberbayern, touristische Regionen mit Gastronomiebetrieben, in denen die Tracht zur Arbeitskleidung zählt. Deshalb steht Steven ziemlich allein in seiner uralten Lederhose in Bad Tölz. Trotzdem erkennt der Amerikaner, dass die Tracht für die Bewohner Bayerns, früher wie heute, mehr als nur Kleidung ist. Sie identifizieren sich mit ihr und bringen damit ihre Heimatverbundenheit und Tradition sichtbar zum Ausdruck. Steven ist zufrieden, denn er hat Antworten auf seine Fragen gefunden und sagt: „Ich bin sehr froh dieses besondere Heimatgefühl meiner Vorfahren und der Menschen hier kennengelernt zu haben. Jetzt verstehe ich auch, warum mein Großvater meinem Vater die Hose mitgegeben hat. Die Menschen hier besitzen etwas besonderes, denn eine Tracht ist halt mehr als nur ein Kleidungsstück. Meine Lederhose schätze ich nun noch mehr und ich komme wieder. Denn in Bayern trägt sie sich einfach besser als in Chicago.“

Holzschild Wegweiser Heimat

Mehr Informationen:
Trachten-Informationszentrum des Bezirks Oberbayern (TIZ)
Bayerischer Landesverein für Heimatpflege e.V.
Trachtenverband Bayern e.V.

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