Er ist mir in all den Jahren nie aufgefallen. Dabei bin ich die Strecke durchs Würmtal oft gefahren. Auf dem Weg zur Arbeit, wenn ich keine Lust auf die Autobahn hatte. Nie habe ich ihn gesehen. Warum er mir eines Nachmittags plötzlich auffiel, weiß ich nicht. Ein Davidstern. Schwarz. Teil eines schmiedeeisernen schwarzen Tors. Zwischen Gauting und Stockdorf. Ich halte an, parke und steige aus.
Ein Friedhof ist das hier, der Gautinger Gemeindefriedhof. Rechts vom Haupteingang das Tor mit dem Stern. Sonst nichts, keine Erklärung. Durch das Tor sehe ich verwitterte Grabsteine in der Wiese. Ein Kiesweg in der Mitte. Ich drücke die Klinke nach unten, sie gibt nicht nach. Ein jüdischer Friedhof hier in Gauting? Gab es hier vor dem Krieg eine jüdische Gemeinde?
Über 100 verlassene Grabsteine
Ich gehe nach links durch den Haupteingang. Es ist niemand zu sehen, ich wage mich durch eine Lücke in den Büschen in den Teil mit den Grabsteinen. Mir ist nicht ganz wohl, aber ich verscheuche mein Unbehagen. Birken säumen den Kiesweg. Das Sonnenlicht fällt weich auf die Grabsteine. Es müssen mehr als 100 sein. Es ist sehr still. Selbst die Vögel scheinen aus weiter Ferne zu zwitschern. Ich gehe die Grabsteine entlang. Manche stehen schief in der Erde. Moos wächst an den Rändern.Efeu, der sich an die Steine krallt.
Mir ist danach, frische Blumen auf die Gräber zu legen. Sie sehen so verlassen aus. Mache Inschriften sind nicht mehr zu lesen, einige schon. Todesdaten: Alle nach Kriegsende, Mai 1945, September 1945, Dezember 1945. Israel Frischmann, Salomon Geman, Regina Fogelmann.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Tores steht eine Stele. Drei Meter hoch vielleicht. Darauf wieder ein Davidstern und eine hebräische Inschrift. Und eine Zahl in der Mitte: 6 000 000. Sechs Millionen. Das muss ein Mahnmal sein für die ermordeten Juden während der nationalsozialistischen Diktatur.
Vom Luftwaffenlazarett zum Lungensanatorium
Wer sind diese Toten? Warum sind sie hier in Gauting begraben? Warum erst nach 1945? Ich frage Ekkehard Knobloch, der 30 Jahre lang Bürgermeister in Gauting war. Ein engagierter Mann, sehr wach. Ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz. Er macht es einem leicht, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen. Knobloch erzählt mir vom Luftwaffenlazarett, in das nach Kriegsende DPs, darunter viele jüdische Patienten, „einrückten“. Er sagt wirklich einrücken. Vermutlich ist das gar nicht so falsch.
DPs, Displaced Persons. So nannten die Amerikaner verschleppte Zwangsarbeiter oder KZ-Überlebende. Oft aus Ost-Europa, aus Ländern, in die kein Weg zurück führte. Elf Millionen davon gab es bei Kriegsende. Einige Hundert davon auch in Gauting. Hier gestrandet waren auch Überlebende des Todesmarsches aus den letzten Apriltagen des Jahres 1945. SS-Schergen trieben damals die völlig entkräfteten und fast verhungerten Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau durchs bayerische Oberland nach Süden. Auch durch Gauting.
Mahnmal zur Erinnerung an den Todesmarsch„Das Klappern der Holzschuhe der Häftlinge konnte man Kilometer weit hören, das ließ niemanden mehr los“. Ekkehard Knobloch ließ in den 80er Jahren in Gauting gegen beträchtlichen Widerstand auch aus den eigenen Reihen das erste Mahnmal zur Erinnerung an den Todesmarsch aufstellen. Und lud Überlebende der Außenlager des KZ Dachau ein. Weil es mehr sein sollte als bloß ein Stein zum Gedenken. Uri Cahnoch zum Beispiel oder Abba Naor. Er hat viele Freunde in Israel.
Weil 1945 viele der ehemaligen KZ-Häftlinge an Tuberkulose litten, kamen sie in das Gautinger Lungenkrankenhaus. Hier versuchte man ihnen zu helfen. Ohne Penicillin oft vergeblich. Viele überlebten die Befreiung nur um wenige Tage oder Wochen. Der Terror der Nazis tötete noch lange nach Kriegsende.
Im Krankenhaus hatten die jüdischen Patienten ein Komitee gebildet. Das setzte bei der Gemeinde durch, dass sie einen eigenen Ort für ihre Verstorbenen bekamen, abseits des christlichen Friedhofs. Das Komitee wollte auch, dass an ihrem Friedhof an den Völkermord an den Juden gedacht wurde. Es war eines der ersten Holocaustdenkmäler, das in Deutschland aufgestellt wurde – bezahlt von den Patienten selbst. Sie sammelten untereinander und sorgten 1947 dafür, dass ein Gedenkstein mit einer hebräischen Inschrift aufgestellt wurde.
Schrei nach Rache für sechs Millionen Tote
Ekkehard Knobloch hat eine Übersetzung mitgebracht und liest sie vor: „Das ewige Volk soll für alle Ewigkeit seiner Heiligen gedenken. Das boshafte Volk, das sechs Millionen unserer heiligen Brüder in den Jahren 1933 bis 1945 ermordet, erstickt, verbrannt und getötet hat, soll im Blut seiner Schlachtopfer ertrinken.“
Ich habe so eine Inschrift noch nie woanders gelesen. Auf keinem Gedenkstein. Das boshafte Volk soll im Blut seiner Schlachtopfer ertrinken. Die ganze wütende Verzweiflung steckt da drin. Auch der Schrei nach Rache. Die Deutschen sollen untergehen. So wie sechs Millionen Menschen jüdischen Glaubens. Warum sind die Inschriften später vergleichsweise sachlich und distanziert?
Schuld und Mitgefühl
Mir fällt meine Großmutter ein. Schweizerin, mit einem Deutschen verheiratet, nie in der Partei gewesen. Keine Nationalsozialistin, aber eben auch nicht im Widerstand. Sie hat schwer getragen an dem, was sie als ihre Schuld ansah. Am Gefühl, es zugelassen zu haben, zugesehen zu haben. Nichts dagegen unternommen zu haben. Einmal sagte sie zu mir: „Wir sind eine verfluchte Generation“. So hat sie sich gefühlt. Mir ist als gäbe es eine Verbindung zwischen ihr und dieser Stele. Und diesen Grabsteinen. Eine Verbindung der Schuld. Von der die wenigsten etwas wissen wollten und wollen. Damals nicht, und heute schon erst recht nicht.
Vielleicht geht es nicht nur um Schuld, sondern auch um Empathie. Mit all denen, die ihr Leben nicht leben konnten. Und darum, nicht aufzuhören, daran zu erinnern, was war. Und darum, was passieren kann, wenn man die Augen verschließt vor Ausgrenzung. In Sachsen oder anderswo.
Kerzen und Steine zur Erinnerung
Ekkehard Knobloch und ich gehen langsam die Gräberreihen entlang. 172 Überlebende der KZs sind hier begraben worden, fünf davon sind Kinder. Viele Beschriftungen auf den Grabsteinen sind nur noch schwer entzifferbar. Manche sind vom Efeu völlig überwuchert. Bei einigen wehen hohe Gräser im Wind. Keine frischen Blumen, nirgends. Die Verlassenheit schmerzt. Und doch liegen auf vielen Grabstelen Steine. Wie es üblich ist auf jüdischen Gräbern. Zur Erinnerung an die Verstorbenen und an den Auszug aus Ägypten in die Freiheit. Wer hat sie hierher gebracht?
Angehörige kommen kaum noch hierher, seit es eine Tafel mit den Namen aller Verstorbenen in der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem gibt. Dafür lesen Würmtaler Schüler jedes Jahr am Totensonntag in einer Feierstunde alle Namen vor. Das hat etwas Tröstliches.
Beim Rausgehen entdecke ich auf der Rückseite eines kleinen Grabsteines Kerzen. Sie müssen aus Israel stammen. Die Klagemauer ist darauf zu sehen. Und hebräischer Text. Sie haben nur kurz gebrannt. Wer immer sie angezündet hat und wann: Ich werde Streichhölzer mitbringen das nächste Mal, wenn ich komme und sie anzünden.
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