Wer anders sein will, muss erst normal verstehen. Doch wie lernen wir, was normal ist? Psychologe Dr. Marco Schmidt leitet an der Ludwig-Maximilian-Universität München eine Forschungsgruppe zur Entwicklung sozialer Normen bei Kindern. In seinen Studien hat er Erstaunliches festgestellt.
Wer an der Supermarktkasse geduldig wartet, weiß, dass man das normalerweise so macht. Soziale Regeln wie diese prägen unser alltägliches Leben und unser Bild davon, was „normal“ ist. Dr. Marco Schmidt, Leiter der Forschungsgruppe DeNo (Developmental Origins of Human Normativity) untersucht in seinen Studien, wie Kinder lernen, Normen zu verstehen.
Herr Dr. Schmidt, wann spricht man von einer sozialen Norm?
Norm würde ich als Sollvorstellung definieren. Wir denken also, dass wir und andere in einer bestimmten Situation gemäß einer Regel etwas Bestimmtes tun sollen. Der Begriff der Norm impliziert auch, dass es dabei um etwas Gemeinsames geht, das über das Individuum hinausgeht.
Wie lernen wir Normen?
Zum einen funktioniert die Weitergabe klassisch durch das, was von der Kultur und Umwelt auf das Individuum einprasselt. Ähnlich wie für den Spracherwerb, muss man aber genetisch ein Stück mitbringen. Eine Hypothese wäre, dass es um eine Fähigkeit geht, die sich um das erste Lebensjahr herum entwickelt: die Fähigkeit zur gemeinsamen Aufmerksamkeit. Das ist die psychologische Fähigkeit, sich gemeinsam auf etwas in der Welt zu beziehen, was Voraussetzung ist, um Sprache und andere konventionelle Normsysteme wie Etiketten zu lernen.
Ab welchem Alter begreifen Kinder soziale Regeln?
Zwischen zwei und drei gibt es einen ersten großen Schritt. Die Kinder verstehen dann, dass Etiketten oder Spielregeln für sie und andere verbindlich gelten. Sie können auch Kontexte unterscheiden. Etwa, dass an einem Tisch auf diese Art und Weise gespielt wird, aber an einem anderen Tisch auf eine andere. Einen weiteren Schritt machen wir mit fünf und sechs Jahren. In dieser Zeit verstehen Kinder besser, dass ihre Ansichten nicht von anderen geteilt werden müssen. Und dass andere Menschen Perspektiven von der Welt haben können, die total falsch sind. Das ist auch wichtig, um zu verstehen, dass Normen eben nur eine Perspektive von Gruppen sind, die man auch ändern kann.
Wie reagieren die Kinder, wenn man eine Regel nicht einhält?
Man hat vor Kurzem festgestellt, dass Kinder schon mit zwei bis drei Jahren anfangen, Normen durchzusetzen. Sie gehen auch andere verbal an, die sich nicht der Konvention entsprechend verhalten. Wenn jemand ein Spiel falsch spielt, korrigieren sie und helfen, dass er richtig spielt. Oder wenn jemand etwas Böses macht, also eine moralische Norm verletzt.
Das darf man aber nicht kaputt machen.
Wie sieht das konkret aus?
In eine Studie wurde etwas Gemaltes von einer Puppe zerstört und dann haben die Kinder eingegriffen und angezeigt: Das darf man aber nicht kaputt machen. Sie verstehen auch zum Teil bereits, dass sich moralische Normen von konventionellen Normen unterscheiden. Zum Beispiel setzen sie konventionelle Normen eher gegen Mitglieder der eigenen Gruppe durch. Kommt jedoch ein Fremder, der anders spielt, protestieren die Kinder weniger. Sie sind also ein Stück weit toleranter gegenüber Abweichungen der Außengruppe. Bei klaren moralischen Normverletzungen, etwa, wenn man fremdes Eigentum kaputt macht, behandeln sie Mitglieder wie Außenstehende gleich.
Später weichen wir oft absichtlich von Normen ab. Woran liegt das?
Vermutlich weil es später wichtig ist, das Ich in Differenz zu Gleichaltrigen zu definieren. Es gibt Theorien, die eine Art Autonomiebedürfnis ganz früh beim Menschen annehmen. Spekulativ könnte man vermuten, dass das ein Mechanismus ist, der auf lange Sicht in Gesellschaften für Innovation und Wandel sorgt. Gebrochene Normen oder Neuheiten können in die Gesellschaft eingehen, zum Beispiel Jugendsprache und Soziolekte. Das könnte die Dynamik von Gesellschaften erklären: dass wir Normen tradieren, aber auch immer wieder Änderungen möglich sind, durch Subkulturen und so weiter. Ein Stück weit sind wir aber in einem normativen Korsett: Auch wenn wir abweichen, kreieren wir oft bereits eine neue Norm und finden es schön, wenn eine Gruppe mitmacht.