Um die Ecke in eine andere Welt: Die Obergiesinger Schuhwerkstätte

Wir leben in einer Welt der Schnelllebigkeit und Massenfertigung. Handwerkliche Kunst, eine persönliche Note und vor allem Nachhaltigkeit gehen dabei oft verloren. Ein Besuch bei der Obergiesinger Schuhwerkstätte zeigt, dass es auch anders geht. Eine Reportage

Vom geschäftigen Lärm der Tegernseer Landstraße biegt die Watzmannstraße ab. Mit jedem Schritt bleibt der Lärm der Hauptverkehrsader zurück. Es ist spürbar, wie das Tempo langsamer, die Geräusche deutlicher und das Treiben beschaulicher werden. Am Ende der Straße preist zur Linken ein aus der Häuserzeile ragendes, etwas in die Jahre gekommenes rotes Schild Schuhreparaturen an. Am Laden selbst sieht man von außen eine alte Nähmaschine, das Innere ist in gedämpftes Licht getaucht.

Schaufensterdekoration
Keine Langeweile – schon das Schaufenster deutet auf Geschäftigkeit (Foto: Manuel Šupe)

Ein Blick hinter die Tür

Als langjähriger Kunde komme ich diesmal mit dem Anliegen, einmal einen Blick hinter die Kulissen des Geschäfts zu werfen. Ich drücke die Klinke nach unten und öffne die Tür. Ich werde vom lauten Schellen der Türklingel begrüßt. Im Laden ist es zunächst still, außer einem leichten Schleifgeräusch hört man nichts. „Hallo, was kann ich für Sie tun?“ fragt eine Stimme hinter der Trennwand. Es passiert erst mal nichts, das Schleifen geht weiter. Es ist warm und ein Geruch von Leder liegt schwer in der Nase. Der Laden ist nicht sehr groß. Links von mir steht eine Holzwand, die den Arbeitsbereich vom Rest des Ladens abtrennt.

Wenn ein Zwerg sich hohe Schuhe kauft, dann bleibt er ja immer noch ein Zwerg.

An ihr lehnt ein hölzernes Wagenrad, das rundherum von Fotografien, Nummernschildern, Zeichnungen und natürlich Schuhen eingerahmt ist. Wie selbstverständlich thront darüber ein Fahrrad. Vor mir ein viel benutzter Tresen, der schon einiges gesehen haben muss, dahinter ein Regal, gefüllt mit Schuhen. Hinter mir steht eine Sitzbank wie in einem Park. An der Wand ein Zitat der Fernsehserie „Stromberg“: „Wenn ein Zwerg sich hohe Schuhe kauft, dann bleibt er ja immer noch ein Zwerg.“ Ich muss schmunzeln.

Nach einer Weile erscheint er, der Herr über dieses kleine Reich der Schuhreparatur. Dalibor Rašević strahlt die Ruhe eines Westernhelden aus. Er hat ein weiches, rundes Gesicht, kurze Haare und einen Bart, der an den Seiten schon Spuren von Grau trägt. Mit dem Anflug eines Lächelns gibt er mir die Hand. Fürsorglich und ganz der Meister seines Fachs fragt er mich, ob ich mit seiner Stiefelreparatur zufrieden sei. Natürlich, bin ich. Ich setze mich auf die Bank, während Rašević sich gleich ein Paar hochhackiger Schuhe vom Regal greift und wieder hinter die Trennwand geht. Kein Handgriff unnötig, kein Wort ist zu viel, dabei bleibt er aber immer freundlich und zugänglich.

Wagenrad an der Wand
Der Laden überzeugt auch durch unkonventionelles, aber liebevolles Interieur (Foto: Manuel Šupe)

Vom Fließband zum eigenen Schuhgeschäft

Wie ist er zu Beruf und Laden gekommen? „Die Herstellung von Schuhen habe ich in meiner alten Heimat Bosnien in einer Schuhfabrik gelernt“ antwortet Rašević ohne seine Arbeit zu unterbrechen. „Dort habe ich eine dreijährige Ausbildung gemacht, in der Massenfertigung am Fließband.“ Aber das hat ihm nicht gereicht. Es sei ihm zu unpersönlich und monoton gewesen. „An den Wochenenden bin ich deswegen zu einem Schuster in sein Geschäft gegangen. Dort habe ich das Handwerk dann nochmals von einer anderen Seite beigebracht bekommen.“

Er betrachtet seine Arbeit nicht nur als Broterwerb, sondern auch als eine Form der Kunstfertigkeit. Eine, die viel Gefühl und Erfahrung für ihre richtige Ausführung voraussetzt. Wie um dies zu unterstreichen, betrachtet er nochmal ganz genau den gerade den frisch instand gesetzten Absatz des Damenschuhs in seiner Hand.

Wie kam er zu dem Geschäft? „Den Laden habe ich direkt von meinem Vorgänger übernommen. Ich habe davor als Angestellter bei anderen Schuhmachern gearbeitet, dann bot sich 2009 die Gelegenheit und ich habe zugegriffen. So hatte ich die Möglichkeit, ein schon gut laufendes, vollkommen ausgestattetes Geschäft übernehmen zu können.“

Der Meister bei der Arbeit

Ich gehe in den Arbeitsbereich. Auf engem Raum in Griffweite hat er hier alles, was er braucht: Sohlen, Klebstoffe, Klammern, Näh- und Schleifmaschinen haben hier alle ihren Platz. Zurück im Ladenbereich. Während er mir den Rücken zudreht um die Sohle eines Herrenschuhs anzukleben, möchte ich wissen wie es um seine Auslastung und Kundschaft bestellt ist. Der Geruch des Klebers breitet sich im Laden aus.

„Es gibt mal solche, mal solche Tage. Aber in der Regel kommt immer etwas Neues rein und ich bin nie ohne Arbeit“ sagt Rašević und zeigt auf das volle Regal hinter sich. „Die Kundschaft ist gemischt. Anfangs hatte ich das Glück, dass der Laden schon eine feste, zumeist ältere Stammkundschaft hatte, auf der ich aufbauen konnte. Das hat sich aber im Lauf der sieben Jahre durchmischt und erweitert. Immer mehr jüngere Menschen kommen zu mir, um sich ihre Schuhe reparieren zu lassen. Mittlerweile würde ich sagen, dass die Jüngeren fast zwei Drittel aller Kunden ausmachen.“

Es gibt mal solche, mal solche Tage. Aber in der Regel kommt immer etwas Neues rein und ich bin nie ohne Arbeit.

Das Vertrauen in seine Fähigkeiten ist dabei so groß, dass neben Schuhen auch schon andere Dinge zu ihm gebracht wurden. So hat er auch schon Handtaschen und Koffer repariert. Doch so etwas macht er nicht mehr gerne, da es ihm zu aufwendig ist und ihn teilweise mit der Schuhreparatur in Verzug kommen lässt. Das heißt aber nicht, dass er grundsätzlich Sonderwünsche ablehnt. Mit verschränkten Armen, an die Wand gelehnt, erzählt er: „Ein Herr fragte mich einmal, ob ich ihm seinen Revolvergürtel anpassen könnte, da er zu weit für ihn war. Er brauchte ihn für sein Westernkostüm. Ich war am Anfang etwas verblüfft über diesen Wunsch, habe es aber dann doch gemacht. Er war sehr zufrieden mit meiner Arbeit und kommt immer noch hierher, um sich seine Stiefel ausbessern zu lassen“, sagt der Schuhmacher und fügt mit einem Schulterzucken hinzu: „Auch so kann man neue Kunden gewinnen.“

Schuhregal
Viel zu tun – An Arbeit mangelt es der Schuhwerkstätte nicht (Foto: Manuel Šupe)

Gute Arbeit, schlechte Zukunftsaussichten

Leider sieht Dalibor Rašević die Zukunft seines Gewerbes und damit auch des Geschäftes nicht sehr rosig. Ein Grund, warum er den Laden damals problemlos bekommen hat, ist, dass das Schustergewerbe langsam ausstirbt. „Schusterläden gibt es genug, aber keiner möchte mehr das Handwerk ausüben. Die Besitzer werden alt, finden keine Nachfolger und machen ihre Geschäfte mit der Rente zu.“

Kurz bevor ich aufbreche wird es nochmal hektisch im Geschäft. Die Kunden geben sich die Klinke in die Hand, die Klingel an der Tür läutet fast ununterbrochen. Es wird eng im Laden. Meister Dalibor lässt sich dabei nicht aus der Fassung bringen. Ruhig nimmt er jedes Anliegen entgegen, kann gleich mit Abholterminen aufwarten und hat immer ein freundliches Wort oder einen Scherz parat.

Morgen ist Lottoziehung. Vielleicht gar nicht mal so lange!

Ein älterer Herr mit Schnauzbart wird gleich mit Handschlag begrüßt und bekommt darauf einen rechten Stiefel aus dem Regal in die Hand gedrückt. „Wie viel darf ich dir dafür geben?“ fragt der ältere Herr. „Ah, nur fünf Euro, Sohle war nur etwas gelöst. Hab sie ein bisschen geklebt und geht jetzt wieder“ sagt Rašević in leicht holprigem Deutsch. Der ältere Herr bezahlt und macht sich nach einer freundlichen Verabschiedung wieder auf den Weg.

Ein Gewinn für alle

Eine letzte Frage zum Schluss: „Bist du zufrieden? Was wünscht du dir für die Zukunft?“ Nach einer kurzen Denkpause antwortet er nickend: „Ja, das bin ich. Der Laden läuft gut, und ich leiste gute Arbeit. Ich habe mein tägliches Auskommen und möchte einfach nur, dass das so bleibt.“ Ich verabschiede mich von Dalibor Rašević. „Ich hoffe, dass du uns noch lange erhalten bleibst“ sage ich. Er verzieht leicht das Gesicht und blickt auf den Tresen. „Morgen ist Lottoziehung. Vielleicht gar nicht mal so lange!“ sagt er und lacht nochmal kurz auf. Dabei verliert er keine Zeit und nimmt sich gleich den nächsten Schuh, bevor er mir den Rücken zudreht und verschwindet. Ich schließe die Tür und mache mich wieder auf den Weg in das laute Treiben draußen. Ich werfe einen letzten Blick zurück und denke mir: Er hat eigentlich schon im Lotto gewonnen – und wir, seine Kunden, mit ihm.

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