Abgefahren

Kundenwerbung in Slubice, Polen

Ohne Ticket wahllos in jeden Zug in Deutschland einsteigen ist einfach abgefahren. Auch zum Zigarettenholen. Das geht mit der Bahncard 100. Ein Selbstversuch.

schwarzfahren mal anders

Die „Schwarze Mamba“, wie die Bahncard 100 gerne von Insidern genannt wird, ermöglicht es, von einem beliebigen Bahnhof aus mit einem Zug der Wahl in Deutschland zu fahren, ohne sich um die leidige Ticketbeschaffung kümmern zu müssen. Zudem kann man den ÖPNV in mehr als 120 Städten nutzen.

Startschwierigkeiten

Meine Bahncard 100 ist ab dem 19. April gültig. Heute ist der 19.04. Ich stehe am Ostbahnhof in Berlin-Friedrichshain. Mein Zug soll um 11:04 Uhr von Gleis 1 Richtung Frankfurt (Oder) abfahren. Ich freue mich schon auf die kleine Reise. Bis zur Durchsage: „Der Zug RE1 um 11:04 ist wegen Personalmangels ausgefallen.“ Ich schlucke und überlege mir eine Alternative, weil ich nicht am Bahnhof, der gerade saniert wird, auf den nächsten Zug warten möchte.

12 Stationen bis zur endhaltestelle

Ich steige in die S3 nach Erkner ein und hoffe, dass ich dort den Folgezug vom Ostbahnhof erwische. Es ist ein erster frühlingshafter Tag mit Schäfchenwolken. Die S-Bahn bewegt sich langsam mit vielen Zwischenstopps Richtung Osten: Rummelsburg, Karlshorst, vorbei an Laubenkolonien, für die Berlin ja bekannt ist. Links weht die rot-weiße Fahne von FC Union, dem Fußballverein mit der Tradition des Weihnachtssingens in der Alten Försterei. Herthaner sind im Westen. Blau-Weiß. Vorbei geht es an Köpenick, an verfallenen Gemäuern. Unbekanntes Terrain. Endstation Erkner.

Rechts Wald. links auch

Pünktlich um 11.54 Uhr hält der Doppelstockzug an der Bahnsteigkante von Erkner. „Heute mit Halt in Berkenbrück, Briesen, Jacobsdorf und Pillgram“, wie die Stimme aus dem Lautsprecher erklärt. Von Wikipedia erfahre ich, dass der erste Zug von Berlin nach Frankfurt (Oder) Berkenbrück am 22. Oktober 1842 mit einer Geschwindigkeit von 30 km/h passierte. Immerhin: vor gut 180 Jahren. Heute werden hier Investoren für ein Mehrgenerationenhaus gesucht, um dem demographischen Wandel gerecht zu werden. Der Zug zieht seine Bahnen ruhig weiter durch die Landschaft, rechts Wald. Links auch. Der junge Mann hinter mir telefoniert mit seinem Vater. Hat er nun „ich liebe dich“ oder „ich höre dich“ gesagt? Es wird mir immer verborgen bleiben. Kurz vor Briesen (Mark) sehe ich Birken und denke an das Lied von Hildchen, wie Hildegard Knef noch immer in Berlin genannt wird: Ich brauch‘ Tapetenwechsel.

flaches land in hangelsberg

12:02 Uhr: Hangelsberg. Ich sehe nur flaches Land. Subkutanfett von Berlin. Speckgürtel ist woanders. In Fürstenwalde (Spree) fährt ein Bus zum „Platz der Solidarität“. Den hat es zu DDR-Zeiten fast in jedem Ort gegeben.

was hat sie gesagt?

Die Zugbegleiterin macht eine Durchsage via Lautsprecher: „Wir weisen darauf hin, dass in diesem Zug die Verpflichtung zum Tragen einer Maske besteht. Bitte tragen Sie die Maske ordentlich.“ Unordentlich wäre ja auch blöd. Aus unbekannter Richtung höre ich: „Was hat sie gesagt?“

Mit wind der zukunft zugewandt

Bei Jacobsdorf stehen die Hoffnungsträger der Energiewende: Mehrere Windräder formieren sich zum Windpark, darüber schweben Wolken mit deutlich dunklen Schattierungen.

Endhaltestelle

Wegen der Zwischenhalte kommt der Zug mit fünf Minuten Verspätung in Frankfurt (Oder) an. Kontrolliert wurde nicht. Auf dem Bahnhofsvorplatz hat das Rote Kreuz ein Zelt aufgebaut, um für die aus der Ukraine Geflüchteten Erste Hilfe zu leisten und eine Notversorgung anbieten zu können. Die Nachfrage ist nicht groß. Sicher gibt es Destinationen im Landesinneren, die bekannter und auch interessanter sind.

von Frankfurt (Oder) nach slubice

Die meisten Reisenden aus dem Zug warten an der Bushaltestelle auf eine der Linien Richtung Slubice, der polnischen Partnerstadt auf der anderen Seite der Oder. Der Weg dorthin führt vorbei am Lichtspieltheater der Jugend, das sich architektonisch am Sozialistischen Klassizismus der Sowjetunion orientiert und heute mit sichtlich eingestelltem Betrieb und kaputten Fenstern ein Trauerspiel abgibt. Vorbei führt der Weg auch am Oderturm, dem Wahrzeichen von Frankfurt (Oder) aus den 70er-Jahren, der mit seiner Höhe von 27 Metern eine geniale Rundumsicht hinein nach Polen und weit über Brandenburg ermöglicht. Der Kabarettist, Musiker und Comedian Rainald Grebe hat der märkischen Streusandbüchse bereits vor einigen Jahren ein musikalisches Denkmal mit dem überraschenden Titel Brandenburg gesetzt.

Kleiner Grenzverkehr

Spätestens auf der Stadtbrücke über die Oder, Verbindung von Deutschland und Polen, schlägt das ohnehin vom Bluthochdruck bedrohte Herz der Nikotinsüchtigen höher, wenn sie dem Lockruf der vergleichsweise günstigen Zigaretten aus dem Nachbarland folgen. Das Big Pack Lucky Strike mit 22 Stück für 4 Euro; 8 Packungen pro Stange. Vier davon dürfen pro Person mitgenommen werden, wenn`s wieder zurück in die Heimat geht. Da kann man grenzüberschreitend mal richtig auf die Pauke hauen.

angekommen

Heute hätte ich die „Schwarze Mamba“ nicht gebraucht. Ich bin wieder dort angekommen, wo ich abgefahren bin. Ganz ohne Fahrscheinkontrolle. Schade eigentlich.

Foto: Zigarettenverkauf in Slubice/Polen ©Petra Burhenne

Für die Zigarettenpause empfehle ich den Artikel: Ankommen & geniessen.