„Jaaah, hier ist die Sophie“

Portrait Sophie Templer Still aus dem Dokumentarfilm "Die Vatersucherin" © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH

Ein Leben im Zeitraffer: Von der k. u. k.-Monarchie über die Anfänge der Moderne in Wien bis in die Gegenwart. Und immer eine Suchende zwischen den Welten.
Ein Nachruf auf Sophie Templer.

Sophie ist tot. Ihre Stimme verhallt, diese einzigartige Stimme, die dem Rauchen geschuldet war, wenn sie am Telefon das „Jaaah“ dehnte, man könnte fast sagen: inszenierte. Im Alter rauchte sie R1, die potenzielle Nichtraucher-Zigarette, davor aber sicher etwas Kräftigeres, das die Bronchien vor größere Aufgaben gestellt hat. Verhallt ist auch ihr Deutsch, das sie so oft mit dem Englischen vermengte, lange bevor wir angefangen haben, über Denglish zu reden und Gayle Tufts es salonfähig gemacht hat. Sophie, kleines Persönchen und große Persönlichkeit. Eine Suchende, die spät gefunden hat. Doch, das hat sie. Gefunden. Spät. Aber doch.

Von der Monarchie bis zur Gegenwart

Die Eckdaten ihres Lebens benötigen nicht mehr Platz als die von uns allen. Irgendwann. Anfang und Ende. Ungewöhnlich sind sie aber schon, weil eine Lebensspanne von 1916 mit ihrer Geburt in der Metropole der Österreichisch-Ungarischen k. u. k.-Monarchie bis zum Tod im Jahr 2021 in Berlin mehr ist, als wir uns vorstellen können. Als wir erreichen können. Ungewöhnlich sind aber auch ihre Lebenslinien. Den Begriff der Heimat hat sie mit einem großen Fragezeichen versehen, versehen müssen. Lebenssehnsucht nach einem Anker, etwas Greifbarem.

parforceritt

Grenzen musste sie überschreiten. Viele Grenzen. Mit vier Jahren kam Sophie Templer zu Pflegeeltern nach Dänemark. Nach weiteren vier Jahren zurück zur Mutter, die inzwischen ihre Zelte in Berlin aufgeschlagen hatte. Marianne Kuh, Schwester des Wiener Feuilletonisten und Kaffeehausliteraten Anton Kuh, lebte hier mit dem Schriftsteller Alexander Solomonica und dem gemeinsamem Sohn Michael in vermutlich prekären Verhältnissen. Und in wilder Ehe. „Alexander Pumpmirwas“ (Albert Ehrenberg an Karl Kraus am 27. September 1911), so der Spitzname von Solomonica. Das erklärt einiges. Das Verhältnis zu ihm war schwierig. Gründe dafür kannte sie nicht. Später lichtete sich dieser Vorhang. Viel später.

Stationen eines Lebens

Bereits 1933 ging es zurück nach Wien, noch bevor die Nationalsozialisten mit der systematischen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begonnen hatten. Mit dem „Anschluss“ Österreichs im Jahr 1938 war die Existenz der Familie erneut bedroht, ein Jahr später gelang die Ausreise nach England. Sophie Templer trat zusammen mit ihrem Bruder in die britische Armee ein. Es folgten Heirat, Kinder, ein kurzer Zwischenstopp in Deutschland und schließlich die Ausreise in die USA im Jahr 1963. Wien ließ sie aber doch nicht los, und so kehrte sie Amerika den Rücken, um an den alten Wurzeln anzuknüpfen.

Der Vater: Anarchist und Psychoanalytiker

Das war 1982. Auf der Suche nach den verlorenen Orten ihrer Kindheit in Wien kam sie mit einem Antiquar ins Gespräch. Erst hier erfuhr sie, inzwischen hatte sie die Sechzig hinter sich gelassen, dass der Psychoanalytiker und Anarchist Otto Gross, der Paradies-Sucher zwischen Freud und C. G. Jung, ihr Vater sei. Der Otto Gross, der bereits im November 1918, ziemlich genau zwei Jahre nach der Geburt von Sophie, für sich ein „Ministerium zur Liquidierung der bürgerlichen Familie und Sexualität“ forderte und mit 42 Jahren im Jahr 1920 an den Folgen seiner Kokainsucht in Berlin verstarb.

sophie und der Bund Deutscher Kriminalbeamter

Diese neu gewonnene Vaterfigur faszinierte Sophie, machte sie stolz, und ihr Leben kreiste um den früh Verstorbenen. Die Zeitreise in ihre unbekannte Familiengeschichte führte schließlich zu ihren Großeltern Adele und Hans Gross aus Graz. Hans Gross, Strafrechtler und Kriminologe mit schwierigem Verhältnis zu seinem Sohn Otto, gilt als Begründer der Kriminalistik und hat die Grundlagen für die Erstellung von Täterprofilen entwickelt. Späte Ehre wurde Sophie Templer 2011 zuteil, die Verleihung der Ehrenmitgliedschaft vom Bund Deutscher Kriminalbeamter in Erinnerung an ihren Großvater Hans Gross.

Sophie in der Literatur

Ein literarisches Denkmal hat Franz Werfel der kleinen Sophie in seinem Roman „Barbara oder die Frömmigkeit“ gesetzt und die Situation wie folgt beschrieben:

Ja, der quäkende Organismus, der unbeaufsichtigt in einem Wäschekorb auf dem Tische lag, während daneben die verschlungenen Wege des Eros erörtert wurden, war ein Kind.

Barbara oder die Frömmigkeit

Und auch Franz Kafka, Student bei Hans Gross in dessen Zeit an der Prager Universität, verewigte Sophie als Säugling, als er über eine gemeinsame Zugfahrt von Budapest nach Prag mit dem Vater Otto Gross, der Mutter Marianne und dem Onkel Anton Kuh im Juli 1917 drei Jahre später schrieb:

Kafka an Milena Jesenská aus: Briefe an Milena

Otto Gross habe ich kaum gekannt; daß hier aber etwas Wesentliches war das wenigstens die Hand aus dem ‚Lächerlichen‘ hinausstreckte, habe ich gemerkt. Die ratlose Stimmung seiner Freunde und Verwandten (Frau, Schwager, selbst noch der rätselhaft

schweigende Säugling zwischen den Reisetaschen – er sollte nicht aus dem Bett fallen, wenn er allein war – der schwarzen Kaffee trank, Obst aß, alles aß, was man wollte) erinnerte in etwas an die Stimmung der Anhänger Christi, als sie unter dem Angenagelten standen.

Ein Stimmungsbild für die literarische Ewigkeit.

Angekommen

Sophie Templers Asche hat den Weg in die Heimat ihrer Vorfahren angetreten. Angekommen in Graz, wo ihr Vater aufwuchs und Hans Gross Kustos des Kriminalmuseums und ab 1905 ordentlicher Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht war. Ein Kreis hat sich geschlossen.

Foto: © Nikolaus Geyrhalter Filmproduktion GmbH

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