Morbide & Makaber

Die Straßenbahnlinie 71 hält Allerheiligen 1939 am Zentralfriedhof. Viele Wartende. Makaber, dass mit dem 71er früher auch Leichen transportiert wurden.

Kuriositäten der Wiener Begräbniskultur. Ein Streifzug durch die Untiefen des Totenkults.

„Der Tod, das muss ein Wiener sein“, so der Titel eines der berühmtesten Lieder des Kabarettisten und Chansonniers Georg Kreisler. Ist das nur Ausdruck vom Wiener Galgenhumor, der berühmten Wiener Seele oder was ist dran an den Geschichten über die Donaunegropole?

Vergänglichkeit in Zahlen

Das Wiener Mortalitätsmonitoring 2007 bis 2020 verzeichnet jährlich 16.000 bis 17.000 Tote in Wien, 45 am Tag, 300 in der Woche. 174 durch Selbstmord oder Selbstbeschädigung auf das Jahr verteilt. Erhängen ist die Nummer eins, danach folgt bei den Männern Erschießen und bei den Frauen ein Sturz aus großer Höhe. Fakten, wie sie in ähnlicher Form auch von anderen Metropolen erhoben werden. Doch was ist in Wien anders?

Mit „Himmelblau“ die zukunft im griff

Dem Morbiden wird hier Raum eingeräumt: im Liedgut, der Literatur und natürlich in der Begräbniskultur. Hier hat der Todestrieb dank Sigmund Freud das Licht der Welt erblickt. Hier sind die Pompfinebrer ein Begriff, eine Verballhornung des französischen pompe funebre, dem Begräbnisprunk, heute Synonym für die Wiener Leichenbestatter. Die schöne Leich‘ in der Bedeutung eines opulenten Begräbnisses mit vielen Trauergästen bringt die Lebensphilosophie der Wiener:innen auf den Punkt, wenn man der Autorin Hilde Schmölzer folgt. Und die muss es wissen, hat sie sich in ihren Werken nicht nur um Die Pest in Wien gekümmert, sondern auch um A schöne Leich. Bei der Bestattung Himmelblau kann man im Hier und Jetzt mit der „Wiener Verein Sterbeversicherung“ den ehrenvollen Abschied im Voraus planen. Da ist man dann im Falle eines Falles auf der sicheren Seite.

Rock me amadeus

Der Zentralfriedhof in Wien-Simmering, gerne auch „Zentral“ genannt, ist mit über drei Millionen Bestattungen seit seiner Eröffnung im Jahr 1874 eine riesige „Nekropole“ im 11. Gemeindebezirk. Anfang 2022 gab es in Wien schließlich nur 1,9 Millionen Einwohner:innen. Die Fläche entspricht mit rund 2,5 Quadratkilometern annähernd der der Wiener Innenstadt. Als kulturhistorisch bedeutsamer Ort mit mehr als 500 Ehrengräbern (ab dem Sterbejahr 1787) und um die 200 „ehrenhalb gewidmeten“ Gräber trifft man hier auf bekannte Namen und illustre Persönlichkeiten: Mozart, Beethoven, Schubert, Nestroy, Kraus, Falco (Rock me Amadeus), Udo Jürgens … Allein den Damen wurde kaum Ehre zuteil. Und verstärkt erst in den letzten Jahren.

SPARSARG & TRAUERLIEDER-HITPARADE

Ein Kuriositätenkabinett ist das Bestattungsmuseum auf dem Gelände des Zentralfriedhofs, 100 Meter vom Friedhofs-Haupteingang entfernt. Früher war dort die Leichenhalle für „Infektiöse“. Heute wird hier der Begräbniskultur gehuldigt: Der wiederverwendbare Sparsarg aus dem Jahr 1784 ist ebenso makaber wie die Totengräberutensilien als skurrile Relikte der Vergangenheit. Makaber ist aber auch der „Rettungswecker“ als Grabbeigabe, die digitale Trauerlieder-Hitparade oder Mitbringsel aus dem Museumsshop: Der große Sensenmann für 14,90 Euro zum Aufstellen für daheim eignet sich gut für stimmungsvolle Schattenspiele mit einem Teelicht, das, und darauf wird dezidiert hingewiesen, nicht inkludiert ist. Das gilt auch für den kleinen Sensenmann für 9,90 Euro.

wanns nacht wird über simmering

Morbide & makaber ist auch der Text vom Duo Ambros/Prokopetz aus dem Jahr 1974: Es lebe der Zentralfriedhof. Und alle seine Tot’n. Ein musikalisches Denkmal zum hundertjährigen Jubiläum des Zentralfriedhofs. Der Musikkritiker Kristoffer Leitgeb schreibt über die Wiener Melange von „ungenierter Wortwahl, todessehnsüchtigen Anwandlungen, sozialkritischem Grant und genießerischer Gemütlichkeit“.

Makaber: Mit dem 71er fahren

Der 71er, die legendäre Straßenbahnlinie mit zahlreichen Haltestellen an den Eingängen des Zentralfriedhofs, ist für eine Überraschung gut: Mit ihr kann man noch fahren, wenn man bereits verstorben ist. Freilich ohne Rückfahrkarte, so makaber es auch klingen mag. Duygu Özkan schreibt in Die Presse: „Für den geübten Wiener nämlich ist der Satz „Er ist tot“ viel zu kunstlos …“ Viel zu profan eben. Der historische Ursprung liegt im Jahr 1918. Zehn Jahre lang wurde ein umgebauter Beiwagen für bis zu zwölf Särge zum nächtlichen Totentransport nach Simmering eingesetzt. Angedacht war auch die pneumatische Leichenbeförderung in einem Tunnelsystem analog der Rohrpost. Diese Idee wurde allerdings nie realisiert.

Leichenfunde an der Donau

Wasserleichen und Suizidale fanden ebenfalls in Simmering ihre Ruhe. Allerdings an anderem Ort: dem Albaner Hafen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt unter dem „Friedhof der Namenlosen“ am Sauhaufen, der vermutlich 1854 seine Pforten öffnete. Strömungsbedingt wurden hier Wasserleichen an Land gespült und auch begraben. Suizident:innen, denen ein christliches Begräbnis verwehrt wurde, ebenfalls. Die Zahl der Bestatteten am alten Friedhof schwankt je nach Quelle. Eine Hinweistafel nennt 478. Es kursiert aber auch eine Zahl über 1000. Wegen zahlreicher Überschwemmungen konnte das Areal ab ca. 1900 nicht mehr als Gräberfeld genutzt werden.

WARUM BIST DENN INS WASSER GANGEN?

Im Jahr 1910 entsteht der neue Friedhof am Albaner Hafen. Laut Presse-Service der Stadt Wien wurden bis zur letzten bekannten Bestattung im Jahr 1940 104 Wasserleichen beerdigt. 61 davon konnten nicht identifiziert werden. Über 60 Jahre hat sich Josef Fuchs sen., Totengräber am Albaner Hafen, dem Erhalt des Friedhofs gewidmet. Der ORF Feature-Redaktion/Radio Österreich 1 hat er im Jahr 1989 interessante Einblicke gegeben: Der Friedhof der Namenlosen oder „Wie die Bergung von Wasserleichen einen Gutteil des Lebens ausmachen kann.“ In dritter Generation betreut der Enkel von Josef Fuchs, der ebenfalls auf diesen Namen hört, die Gräber. Er steht auch als freundlicher Ansprechpartner zur Verfügung. Im Reiseführer „1000 Places To See Before You Die“ von Patricia Schultz fehlt der Friedhof der Namenlosen. Das wäre ja auch zu makaber.

adressen & Öffnungszeiten

Zentralfriedhof

Simmeringer Hauptstraße 234
1110 Wien
Straßenbahn-Linien 6 und 71: Station Zentralfriedhof
Telefon: +43 1 534 69 28405
Webadresse: https://www.friedhoefewien.at/wiener-zentralfriedhof
Kernöffnungszeiten der Friedhöfe Wien GmbH:
Täglich 08.00 bis 17.00 Uhr
Je nach Saison teilweise verlängerte Öffnungszeiten

Bestattungsmuseum

Simmeringer Hauptstrasse 234
1110 Wien
Unter der Aufbahrungshalle 2
Telefon: +43 1 760 67
E-Mail: bestattungsmuseum@bfwien.at
Webadresse: www.bestattungsmuseum.at
Öffnungszeiten:
Montag bis Freitag 09:00 bis 16:30 Uhr

Friedhof der Namenlosen

Am Albaner Hafen
Lage
Kontakt: Josef Fuchs
Telefon: +43 660 6003023
Webadresse: http://friedhof-der-namenlosen.at
E-Mail: josef_fuchs@gmx.at
Webadresse: http://friedhof-der-namenlosen.at
Öffnungszeiten: Der Friedhof ist immer zugänglich
Kapelle und Totenkammer nach telefonischer Terminvereinbarung

Foto: Linie 71 im Zentralfriedhofverkehr Allerheiligen 1939 Copyright: @Wiener Linien

Die Lebenslinien einer Suchenden: Zum Tod von Sophie Templer

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