„Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja

Portrait Katja Petrowskaja

Ein Reisebericht zu den eigenen Wurzeln und eine Geschichte der Ukraine im 20. und 21. Jahrhundert. Geschrieben in zauberhaft poetischer Sprache. Eine Rezension von Anne Munding.

Schon lange liegt „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja auf dem wachsenden Turm der noch ungelesenen Bücher. Schon lange wollte es gelesen werden. Stattdessen rutschte es immer weiter nach unten. Putins zweiter Angriffskrieg auf die Ukraine bot den traurigen Anlass, es endlich zur Hand zu nehmen.

Man erhofft sich eine Geschichte der Ukraine in Form eines Familienromans und wird enttäuscht. Katja Petrowskaja hat etwas Moderneres und viel Bedeutenderes vorgelegt: Einen Reisebericht zu ihren eigenen Wurzeln, der über die Geschichtsphilosophie ins Metaphysische führt. Erzählt in losen, nur zart miteinander verwobenen Geschichten.

Die Reise beginnt in Berlin und endet in Kiew. Dazwischen liegen die blutüberströmten Felder der deutsch-russischen Geschichte. Bevor wir uns auf diese Felder begeben, sei erwähnt, dass das Buch in geradezu zauberhaft poetischer Sprache geschrieben ist.

„Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch“

1970 in Kiew geboren, hat Petrowskaja ihre Familie bereits mit 16 Jahren verlassen, um in Tartu (Estland), Stanford und Moskau Literaturwissenschaft zu studieren. Seit 1999 lebt sie in Berlin und schreibt auf Deutsch. „Vielleicht Esther“ ist der Versuch einer Wiederannäherung an ihr Land, ihre Sprache, ihre Kultur und vor allem an ihre Familie.

Die Voraussetzung für die „totale Rückkehr“ einer Entwurzelten ist der Wunsch, endlich zu erfahren, wie „es“ eigentlich gewesen ist. Obwohl ihre Mutter Geschichtslehrerin ist und einer Familie entstammt, die über zweihundert Jahre hinweg taubstummen Kindern das Sprechen beibrachte, wird über die eigene Familiengeschichte kaum gesprochen. Der Vater kennt nicht einmal den Vornamen seiner Großmutter.

Sie könnte „Vielleicht Esther“ geheißen haben. Vielleicht. Was bleibt, sind die immer leiser werdenden Klänge der Erinnerung: Ein Großonkel verübte 1932 in Moskau ein Attentat auf den deutschen Botschaftsrat. Die jüdische Urgroßmutter lief am Tag des Massakers von Babyn Jar voller Vertrauen in die Arme der SS. Der in deutsche Kriegsgefangenschaft geratene Großvater kehrte erst 41 Jahre nach Kriegsende zu seiner Familie nach Kiew zurück.

„Ich habe alles so aufgeschrieben, wie es passiert ist. Es ist leider eine wahre Geschichte“

Die Autorin reist zu den Schauplätzen dieser Erinnerungen, sucht nach Quellen und Zeitzeugen. Die Suche gerät zur Sucht und führt zu den Schreckensorten des 20. Jahrhunderts: Warschau, Auschwitz, Katyn, Babyn Jar, Moskau, Berlin, Mauthausen. Obwohl das Wort Holocaust kein einziges Mal fällt und sich Katja Petrowskaja in Interviews gegen die allzu schematische Einteilung in Opfer und Täter ausspricht, ist es auch ein Buch über die deutsche Schuld.

Durch den rassenideologischen Angriffs- und Vernichtungskrieg Hitlers starben in der Sowjetunion 26,6 Millionen Menschen, 5,3 Millionen sowjetische Soldaten gerieten in deutsche Kriegsgefangenschaft, zwei Millionen überlebten. Wenn in diesen Tagen allzu leichtfertig vom „Russland-Komplex“ der Deutschen die Rede ist, hier wird er historisch und erzählerisch begründet.

„Wer konnte, floh aus Kiew“

Das Buch endet an einer Kreuzung in Kiew, wo der Erzählerin ein Engel bescheinigt, in letzter Zeit ein wenig zu oft in Kiew gewesen zu sein. Seit dieser Begegnung sind fast zehn Jahre vergangen. Heute lebt Katja Petrowskaja in Berlin und Tiflis. In Interviews forderte sie die NATO-Mitglieder auf, zur Unterstützung der Ukraine in den Krieg einzutreten.

Im Mai werden ihre in der FAZ veröffentlichten Kolumnen „Das Foto schaute mich an“ im Suhrkamp-Verlag erscheinen. Ihre Mutter, die sich lange weigerte, Kiew zu verlassen, veröffentlichte Anfang März ein Video, in dem sie sich an die Mütter russischer Soldaten wandte und zur sofortigen Beendigung des Krieges aufrief. Bislang vergebens.


Petrowskaja, Katja, Vielleicht Esther, Suhrkamp Berlin 2014.

Titelbild: © Gunter Glücklich/Suhrkamp Verlag
Buchcover: © Suhrkamp Verlag