Tausche Kreativjob gegen Altenpflege
Wenn der Job keinen Spaß mehr macht, lohnt sich ein beruflicher Neustart. Regine hat ihn gewagt. Die Grafikdesignerin sattelte mit 48 um und betreut jetzt Demenzkranke im Seniorenheim. Nur wenige ältere Arbeitnehmer trauen sich, noch einmal ganz von vorne anzufangen.
Eine Reportage von Stephanie Kmitt
„Jetzt nicht schlafen, schlafen können Sie später, jetzt wollen Sie doch malen“, ermuntert Regine die 92-Jährige Bewohnerin eines Seniorenheims in der Nähe von München. Früher hat die alte Dame in ihrer Freizeit mit viel Geschick gebastelt und gemalt, aber das hat sie vergessen. Die zerbrechliche Frau mit den wachen blaugrauen Augen lebt seit 2013 wegen ihrer Demenz im Heim. Betreut wird sie von Regine, die hofft, dass das Talent zum Malen noch in der ehemals Kreativen schlummert. Ihre Aufgabe als Betreuungsassistentin ist es, Fähigkeiten der Bewohner möglichst lange zu erhalten oder wieder zu wecken. Deshalb will sie heute Vormittag mit der ehemaligen Hausfrau ein Aquarell malen. Der Wassermalkasten steht bereit, aber die betagte Frau ist zu müde. Regine nimmt es gelassen.
Die Realität entzaubert den Traumberuf
Regine ist 52 und arbeitet seit 2012 als Betreuungsassistentin in einem Heim, in dem viele Demenzkranke, aber auch Bewohner mit körperlichen Einschränkungen leben. Ursprünglich hat sie Grafikdesign studiert. Die Grafik war immer ihr Traumberuf, aber nach der Insolvenz des Arbeitgebers und der Geburt ihres Sohnes hat sie nur noch Aufträge als freie Mitarbeiterin bekommen. „Von Vertrag zu Vertrag musste ich mich wie ein Neuling bewerben, und jedes Mal ist der Stundenlohn gesunken. Die jungen Leute in der Grafik sind bereit, für wenig Geld bis in die Puppen zu arbeiten. Mit Kind kann man das einfach nicht mehr.“ Während sie erzählt, schiebt sie die leise schnarchende Rentnerin im Rollstuhl zurück in ihr Zimmer. Die früher einmal stattliche Dame war nicht länger wach zu halten. Demente Menschen verlieren ihren Tag-Nacht-Rhythmus, sie dämmern daher häufig auch am Tag ein. Regine stellt den Rollstuhl ans Fenster, damit die Seniorin hinaus in den Garten schauen kann, wenn sie aufwacht.
Inzwischen ist es elf Uhr und Zeit für Regines Gymnastikrunde. Sie geht von Zimmer zu Zimmer und lädt die Bewohner, die laut Betreuungsplan körperlich gefördert werden sollen, persönlich ein mitzumachen. Auch den Bewohner des Zimmers 216 möchte sie animieren, sich etwas zu bewegen. Der Bayer mit dem kleinen Bauch bleibt am liebsten allein. Er versucht, mit einer Charmeoffensive dem Gruppenangebot zu entgehen: „Mei, Frau Regine, mit Ihnen dad i überallhin geh’n. Aber wenn i Sport machen soll und Sie dabei die ganze Zeit anschaun muss, da kriag i ja an Herzinfarkt.“ Regine lacht, aber sie lässt nicht locker. Der frühere Zimmermann mit dem weißen Schnauzbart würde sonst tagein, tagaus in seinem Zimmer sitzen – das ist nicht gut für seine Stimmung.
Bundesfreiwilligendienst als Einstieg in die soziale Arbeit
Die Idee, etwas Soziales zu machen, begleitete Regine schon lange. „Als Grafikerin saß ich stundenlang am Textumbruch für eine Zeitschriftenseite – eine Arbeit, die kein Mensch sieht. Da beschlich mich manchmal das Gefühl, meine Zeit mit Unwichtigem zu vertrödeln, wo es so viel Leid auf der Welt gibt.“ Zufällig entdeckte ihr Mann im Internet eine Stelle für den Bundesfreiwilligendienst in der Nähe ihres Wohnortes. Die Grafikerin musste nicht lange überlegen. Sie entschied ganz spontan, dass jetzt der Moment sei, in ihrem Leben noch mal etwas komplett anderes zu machen. Sie verpflichtete sich 2012 für ein Jahr als sogenannte Bufdi in einem Seniorenheim – wo sie heute noch arbeitet.
Im Turnraum sitzen 14 aufgeregte Seniorinnen und Senioren im Kreis. „Strecken Sie mal die Arme nach rechts und links aus“, fordert Regine sie auf. Einige boxen ihren Nachbarn scherzhaft in die Seite. Der rüstige Bayer tut so, als würde er die Dame neben sich am Arm treffen. Alle lachen. „Tja, Sie sitzen wohl noch zu nah beieinander“, stellt Regine fest. Nach geräuschvollem Stühlerücken stimmt sie das Begrüßungslied für die Turnstunde an. „Wir haben gegessen, es hat uns geschmeckt, jetzt kommt die Gymnastik, gegen den Speck“, singen sie mit brüchiger Stimme. Alle Gelenke werden nun durchbewegt. Während einer kleinen Verschnaufpause will die Übungsleiterin wissen: „Welche Dinge brauchen wir morgens im Bad?“ Geschickt nutzt sie jede Gelegenheit, bei den gedächtnisschwachen Teilnehmern auch die grauen Zellen zu trainieren. Nur wenige trauen sich, laut in die Runde zu rufen, aber alle murmeln richtige Antworten wie „Zahnbürste, Kamm, Seife“. Die Gymnastikstunde liebt Regine besonders, „weil man hier zuschauen kann, wie manche Leute von Mal zu Mal fitter werden“.
In der Tagespflege kommt Frust auf
Solche Erfolgserlebnisse sind in der Altenpflege rar. Vor einem halben Jahr hat Regine die Unterstützung einer Externengruppe, die nur tagsüber in das Seniorenheim kommt, wieder aufgegeben. Die alten Menschen, die in Familien oder noch alleine wohnen, werden hier den ganzen Tag über in einer Gruppe betreut. „Aufbewahrt“ nennt es Regine. „Einer lief weg, ein anderer verschüttete seinen Tee, ein dritter musste zur Toilette – manchmal war es, wie einen Sack Flöhe zu hüten.“ Es frustrierte die engagierte „Senioren-Animateurin“, wie sie sich selbst bezeichnet, dass sie nicht auf jeden individuell eingehen konnte.
Jetzt fördert sie wieder Heimbewohner und arbeitet gezielt mit jedem einzelnen. Für Gruppenangebote sucht sie Leute aus verschiedenen Wohngruppen zusammen, die ähnliche Interessen oder denselben Förderbedarf haben, und kreiert für sie ein passendes Programm. Die frühere Grafikerin malt und bastelt mit den Senioren, geht spazieren, kocht Marmelade, backt Kuchen mit ihnen oder begleitet sie zum Arzt.
Zeit für einen beruflichen Neustart
„Nach wenigen Monaten Bundesfreiwilligendienst war klar, dass mir die Arbeit viel Spaß macht. Die Heimleitung war sehr zufrieden, und ich war bei den Bewohnern beliebt.“ Regine wurde eine Festanstellung angeboten, wenn sie die Ausbildung zur Betreuungsassistentin abschließt. „Ich habe den Kurs selbst finanziert, aber ich bekam von meinem Arbeitgeber dafür frei.“ Das Alter der damals 48-Jährigen war für die Heimleiterin überhaupt kein Thema. Im Gegenteil, sie war der Meinung, dass die Bewohner zu älteren Betreuern leichter Vertrauen fassen.
Nur wenige ältere Arbeitnehmer trauen sich einen beruflichen Neustart zu, wie Regine ihn gewagt hat. Alexander Spermann, Direktor für Arbeitsmarktpolitik am Institut für Zukunft der Arbeit, kann keinen Trend ausmachen, dass mehr Menschen eine zweite Ausbildung beginnen, nicht einmal unter den Arbeitslosen. Umschulungen und Weiterbildungen seien bei Älteren dagegen sehr viel häufiger, erklärt die Pressesprecherin der IHK München, Katharina Toparkus. Nur knapp 1200 Menschen haben laut dem Bundesbildungsbericht 2013 in Deutschland mit über 40 eine duale Ausbildung begonnen. Die IHK sieht schon in Lehrlingen über 30 absolute Einzelfälle. Bei den verfügbaren Zahlen geht es in erster Linie um die klassische Lehre. Berufswechsel wie der von Regine auf Basis eines einjährigen Kurses, die Aufnahme eines Studiums oder die Eröffnung eines Ladens werden in diesen Zahlen nicht berücksichtigt.
Geld ist bei der Berufswahl nicht alles
Empfehlen würde der Arbeitsmarktexperte Spermann die berufliche Neuorientierung nur aus gesundheitlichen Gründen oder wenn der ursprüngliche Beruf „gar keinen Spaß“ mehr macht. Denn „wenn Sie mit über 40 einen neuen Beruf lernen, sind Sie während der Ausbildung drei bis vier Jahre für den Arbeitsmarkt blockiert. Selbst wenn Ihre Arbeitskraft dann wieder gefragt ist, fangen Sie nochmals mit dem Gehalt eines Berufseinsteigers an.“
Für Regine ist Geld nicht alles. Sie hat das Glück, durch das Gehalt ihres Mannes finanziell abgesichert zu sein. Im Vergleich zu ihrer letzten Freiberuflichkeit bleibt ihr netto sogar mehr. Generell würde sie jedem raten, auch in höherem Alter einen Neustart zu wagen, selbst wenn er finanzielle Einbußen hinnehmen muss. „Du verbringst so viel Zeit in der Arbeit, da musst du etwas machen, was dich erfüllt.“ Regine hat ihren Schritt nie bereut. „Ich habe endlich das Gefühl, etwas wirklich Sinnvolles zu tun, und ich bekomme so nette Rückmeldung von den Seniorinnen und Senioren – das macht einfach Spaß.“