Wege aus dem Immer-schneller-immer-Mehr
Angeregt durch „Futurzwei“, die Stiftung Zukunftsfähigkeit des Soziologen Harald Welzer, hat Monika Ziegler vor einigen Jahren die Spurwechsel-Initiative im Landkreis Miesbach gegründet. Anfangs ging es um Geschichten von Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand genommen haben. Nun kommt auch die gesellschaftliche Ebene ins Spiel. Die promovierte Festkörperphysikerin sprach mit Ruth Alexander über den typischen Spurwechsler.
Frau Ziegler, was ist ein Spurwechsler?
Ein Spurwechsler ist unzufrieden und neugierig. An einem Punkt stellt er fest: Ich muss aus meinem Leben noch etwas anderes herausholen. Das kann es nicht gewesen sein. Ein Spurwechsler kann ein Mensch sein, der familiär in eine Spur gepresst wurde, die er nicht wollte. Oder ein Ex-Banker, der sagt: Ich will nicht auf Kreuzfahrt gehen. Ich will aus meinem Leben noch etwas machen. Die Spur zu wechseln bedeutet nicht unbedingt, einen neuen Beruf zu wählen. Es bedeutet viel mehr eine innere Veränderung. Eine neue Haltung zu sich selbst, zum Leben, zur Arbeit. Das ist das Wichtigste.
Wie findet er eine neue Haltung?
Es gibt den Begriff der Potenzialentfaltung, das heißt jeder Mensch hat ein Potenzial: was er kann, was er will, wofür er geeignet ist. Oft konnte der Mensch aber sein Potenzial nicht voll entfalten, hat nur einen Teil ausgelebt. Dann entdeckt er, dass er damit nicht glücklich ist, es fehlt etwas. In der Regel ist es die Sinnhaftigkeit. Und wenn er entdeckt, dass der Sinn fehlt oder zu wenig Sinn da ist, dann kann er die Spur wechseln. Entweder indem er einen neuen Job, einen völlig neuen Weg einschlägt oder sich innerlich verändert.
Wie merke ich, ob ich reif bin für einen Spurwechsel?
Das können äußere Dinge sein: eine Entlassung, eine Krankheit, ein Umzug, die Rente oder wenn die Kinder aus dem Haus sind. Es gibt viele äußere Impulse. Das andere ist das innere Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben. Und der Sinn ist absolut individuell. Da gibt es tausend Dinge.
Und wie kann ich das herausfinden?
Bei unseren Stammtischen bieten wir Methoden zur Selbsterfahrung an. Die meisten fühlen eine innere Unruhe, spüren, dass etwas falsch läuft, dass sie mehr aus ihrem Leben machen können. Dazu dienen das Schreiben und das Sich-Austauschen. Und dazu gehört auch das Wissen. Deswegen nehmen wir uns jedes Mal eine Methode vor, die uns auf die Sprünge helfen soll: Wer bin ich, was bin ich, wo will ich hin?
Muss es immer ein Spurwechsel auf Dauer sein?
In unserer Spurwechsel-Gruppe sind einige, die sich eine Auszeit genommen haben. Es kann sein, dass man danach nur noch halbtags arbeitet oder dass man aus einer Leitungsfunktion zurücktritt, weil die Verantwortung zu groß ist. Und es kann gut sein, dass man durch die Selbstreflexion eine andere Haltung zum Leben, zur Arbeit gewinnt und mit dieser anderen Haltung in das alte Leben, in den Job, in das Umfeld zurückkehrt.
Ist auch gesellschaftlich die Zeit reif für einen Spurwechsel?
Der Wandel ist notwendig, individuell und gesellschaftlich. Wie es jetzt ist, geht es nicht weiter. Nach meinem Gefühl leben wir gerade in einer Krisenzeit. Daher müssen wir über alternative Wirtschafts- und Lebenskonzepte nachdenken. Und – was vielleicht genauso wichtig ist – wir müssen über andere Formen des Zusammenlebens nachdenken. Wieder mehr in vertrauensvolle Gemeinschaften investieren – also nicht Karriere, Erfolg und Leistung um jeden Preis!
Sondern?
Wirklich vorwärts kommt man nur im Team. Mir liegt vor allem die Art der Kommunikation zwischen den Menschen am Herzen. Ich finde, die hat in den westlichen Industrienationen in den vergangenen Jahren sehr gelitten. Da können wir von anderen Kulturen sehr viel lernen. Aber wir können uns auch wieder beibringen, mit Empathie aufeinander einzugehen. Die Neurowissenschaft zeigt, dass ich mein Mitgefühl für den anderen steigern kann, wenn ich das will. Da muss jeder seinen individuellen Weg finden. Der eine meditiert acht Stunden am Tag, der andere geht auf eine Alm, der dritte arbeitet schwer. Indem ich mich verändere, kann ich enorm viel für die Gesellschaft tun, ich kann meinen Beitrag leisten.
Was bedeutet das konkret?
Wir haben im April 2016 in Miesbach die dritte Spurwechsel-Konferenz veranstaltet, unter dem Titel Anders wachsen – Alternativen für das Oberland. Wir wollen unsere Initiative von der persönlichen auf die gesellschaftliche Ebene heben – auf den Wandel und die nötige Transformation, die in der Gesellschaft anstehen. Beteiligt sind nicht nur Initiativen aus dem Landkreis, sondern auch aus den Nachbarlandkreisen. Allerdings haben wir bewusst nur Gruppen aus der Region eingeladen, keine aus der Stadt. Die Veranstaltung war der Region gewidmet, in der nicht urbane, sondern ländliche Aspekte eine Rolle spielen. Mittels Vorträgen und Podiumsdiskussionen sollten Menschen, die den Sinn in ihrem Leben noch nicht gefunden haben, Impulse bekommen.
Um welche Themen ging es?
Die Konferenz widmete sich mehreren Themen: Landwirtschaft, Wirtschaft, Bildung, Energie, Klima und Gesundheit. Wir hatten einen Arzt eingeladen, der die gesundheitlichen Auswirkungen des Immer schneller, immer mehr auf den Menschen skizziert. Es gab kurze Impulsvorträge, der Fokus lag auf der Diskussion mit dem Publikum. Auf dem so genannten Markt der Möglichkeiten präsentierten sich Einzelpersonen, Initiativen, Organisationen und Firmen.
Gab es ein Begleitprogramm?
Weil wir ein Kulturverein sind, lag mir am Herzen, das Ganze kulturell zu begleiten. Zur Konferenz gab es eine Ausstellung zu Upcycling-Kunst, Kunst aus Müll. Künstler aus der Region, die sich auf dieses Thema spezialisiert haben, waren eingeladen. Sie schafften Kunstwerke aus echtem Müll wie Katzenfutterdosen oder Kaffeekapseln, aber auch aus Abfallholz, aus alter Kleidung oder aus Altpapier.
Und sonst?
Eines der Begleitinstrumente für die Spurwechsler ist die Schreibwerkstatt, in der Texte geschrieben werden, die uns auf die Sprünge helfen. Wir hatten das Thema Anders wachsen und schrieben direkt für die Konferenz Geschichten und Gedichte. Es gab eine Broschüre, es wurde vorgelesen, und es wurde Musik gespielt. Ein Musiker macht Instrumente aus Müll, und auf denen hat er uns musikalisch begleitet.
Mit welcher Motivation veranstalten Sie diese Konferenzen?
Ich hoffe immer, dass viele Leute kommen, die miteinander reden, sich vernetzen und Neues kennenlernen. Auf dem Markt der Möglichkeiten haben die Leute gesehen, dass es schon viel gibt: Graswurzelbewegungen, die sich mit Kreativität, Intelligenz, Engagement und Leidenschaft das Thema Anders wachsen, anders wirtschaften oder anders leben auf die Fahnen geschrieben haben.