Die internationale Tierrechtsgruppe „Activists for the Victims“ wirbt für eine vegane Lebensweise. Bei ihren Aktionen konfrontieren sie Passanten mit Videoaufnahmen gequälter Tiere.
Weit aufgerissene Augen suchen nach einem Ausweg. Zwei Meter hohe Edelstahlwände quetschen die Kuh ein, der die Augen gehören – über ihr der Schlächter mit dem Bolzenschussapparat. Bäng. Hunderte gesunde Küken fahren auf Förderbändern in den Häcksler. Ein Schafsleib zuckt noch einige Sekunden nach dem tödlichen Stromstoß. Der stahlgraue Himmel spendet trübes Tageslicht, während langsam ein Krankenwagen vorbeirollt. Er ist kein Teil der Inszenierung, doch er passt perfekt ins Bild.
Die Gesichter hinter weißen Masken verborgen stehen vier von insgesamt elf Aktionsteilnehmern regungslos auf der Stelle. Vor ihrer Brust halten sie 20 Zoll große Monitore, auf denen Videobilder von Massentierhaltungen, Tierversuchen oder Schlachtungen im Dauerloop laufen. Dennis Hartmann sagt: „Wir zeigen die Wahrheit, die jede Sekunde legal auf dieser Welt geschieht und von der viele Menschen keine Ahnung haben.“ Gefilmt wurden die Aufnahmen von befreundeten Tierschutzorganisationen, aber auch von Mitarbeitern der jeweiligen Betriebe.
„Wir zeigen die Wahrheit, die jede Sekunde geschieht“
Eine junge Frau stellt sich vor der Szenerie auf, zieht ihr Smartphone aus der Handtasche und schießt Fotos – vom dahinterliegenden Neuen Rathaus am Marienplatz in München, dessen 17 Uhr-Glockenspiel eben noch die Blicke von vielen Passanten auf sich gezogen hat. Das ist die Kulisse, vor der die Aktion „Cube of Truth“ stattfindet.
„Wir verändern die Welt“, sagt Dennis Hartmann und lacht. Im Kleinen, meint der 32-jährige Münchner damit. Seine Augen strahlen. Er ist einer der Aktivisten, die sich am zentralen Ort der Münchner Fußgängerzone auf einer stilisierten quadratischen Bühne versammelt haben. Die schwarz gekleideten Mitglieder der internationalen Tierrechtsgruppe „Activists for the Victims“ setzen sich für die vegane Lebensweise ein. Auf ihrer Website ist zu lesen: „Nicht-menschliche Tiere haben genauso wie wir ein Interesse an ihrem Leben und ihrer körperlichen Unversehrtheit. Deshalb ist es unser Ziel, dass alle Formen der sogenannten ‚Nutzung‘ von nicht-menschlichen Tieren abgeschafft werden.“
Die Anonymisierung der Monitorträger steht stellvertretend für das Leid der namenlosen Tiere. Mitgefühl sollen die gezeigten Bilder erzeugen, denn von erhobenen Zeigefingern halten die Kämpfer für das Tierwohl wenig. „Über die emotionale Ebene gelingt es am besten, Menschen zu erreichen“, berichtet der Mann im schwarzen Kapuzenpulli. Andere Mitglieder der Gruppe, die Outreacher, sprechen mit verweilenden Passanten, um ihr Anliegen zu vermitteln: Sie wünschen sich, dass die Menschen den Konsum von tierischen Produkten hinterfragen und die vegane Lebensweise als gewaltfreie Alternative erkennen und praktizieren.
An den Aktionen von „Activists for the Victims“ beteiligt sich Dennis Hartmann seit zwei Jahren: Anfangs sind die Aktionen aufregend gewesen, erzählt er. Doch Routine sei lange eingekehrt. Er will die Menschen aufklären und bestenfalls von einem veganen Leben überzeugen. Zu den Reaktionen der Leute sagt er: „Die Resonanz ist überwiegend positiv. Menschen, die sich lustig machen oder abfällig äußern, können wir mitunter abholen und ein ernsthaftes Gespräch mit ihnen führen. Am schwierigsten sind die Ignoranten, denn da ist nichts zu machen.“
Seit dreieinhalb Jahren hat er weder Fleisch noch Käse angerührt. Er isst Chili sin Carne, also Chili ohne Fleisch und vermisst tierische Erzeugnisse nicht. Vor allem hat er ein gutes Gewissen. Seine schlanke Statur, der klare Blick und sein Elan zeugen von einer guten Gesundheit. Vor einigen Jahren hat er Computerspiele entwickelt, nun ist er Mitarbeiter eines veganen Restaurants.
Überhaupt führe die Auseinandersetzung mit der Thematik zu einer umfassenden Hinterfragung des menschlichen Handelns und somit der eigenen Lebensweise: „Alle meine Mitstreiter machen sich viele Gedanken, nicht nur über die Domestizierung von Tieren.“ Eine Monitorträgerin möchte von Dennis Hartmann abgelöst werden. Geschwind hat sich der Mann, der auf jede Frage eine passende Antwort hat, in einen schweigenden, anonymen Monitorträger verwandelt.
Ein großer, brauner Hund wirkt als führe er sein Herrchen an der Leine und tappt scheinbar unbeeindruckt an der Aufführung vorüber – zumindest schaut er weg. Die Augen der meisten Passanten verweilen nur kurz auf der Darbietung, dann blicken auch sie in eine andere Richtung. Neugierig sind viele Menschen, denn die Aktivisten in schwarzer Kleidung mit weißen Masken und umgehängten Monitoren stören das gewohnte Bild der Fußgängerzone. Die eindringliche Musik lässt aufhorchen, doch nur wenige Passanten halten inne. Ein Paar, Mitte zwanzig, bleibt lange vor der Darbietung hängen. An der linken Hand des Mannes baumeln drei Einkaufstüten, an seiner rechten die Hand seiner Freundin. Sichtlich interessiert, mit hängenden Schultern blicken die Beiden auf einen der Monitore. Eine gute halbe Stunde bleiben sie, schauen sich die Filme an und sprechen mit einer Aktionsteilnehmerin.
„Fleisch wird nicht aus der Nahrungskette verschwinden“
Die ruhige, nachdenklich stimmende Klaviermusik, die über der Aktion liegt, wird vom leicht scheppernden Klang der Rathausglocke überlagert – 18 Uhr, noch zweieinhalb Stunden dauert die Aktion. Die Straßenlaternen und Schaufensterbeleuchtungen lösen langsam die wolkenverdeckte Sonne ab. Auch die Monitorbilder haben ihre Blickfangqualität verbessert. Mit zusammengerollter Bildzeitung gestikulierend diskutiert ein älterer Herr mit einer Aktivistin. „Fleisch wird nicht aus der Nahrungskette verschwinden“, trägt er mit kräftiger Stimme vor. Sie sagt: „Würden Sie Ihren Hund essen?“ Er: „Darum geht es nicht und in anderen Ländern wird dies getan.“
Der 1938 in Magdeburg geborene Wahlmünchner findet Massentierhaltung auch schlimm, nur glaubt er nicht an den Wandel. „Komplett auf tierische Produkte zu verzichten, wird nicht funktionieren“, meint er noch, bevor sich die Aktivistin für das Gespräch bedankt und sich verabschiedet. Ein „glücklicher“ Taubenschwarm zieht seine Kreise über dem Platz und verteilt sich auf den umliegenden Dächern. „Eure Monitore sind viel zu klein, viel zu klein“, ruft jemand lautstark und ist schon wieder verschwunden.
Daniel, 44, mittlere Statur, die hellgraue Jacke spannt sich leicht über den Bauch, betrachtet lange die gezeigten Bilder und kann kaum glauben, was er zu sehen bekommt. „Des is´ ja brutal, des zum seh´ng“, sagt er und schüttelt den Kopf. Es müsse jeder für sich selbst entscheiden, ob er da mitmache. Die Aktion findet er gut, da viele Leute nicht wissen, welches Leid hinter der Produktion von Fleisch aus dem Supermarkt stecke. Einem älteren Mann neben ihm erzählt er:
„Unglaublich, de ganz´n kloana Kük´n wer´n direkt tot g´macht.“ Lange habe er kein Fleisch gegessen, aber heute hatte er Lust auf Fleischpflanzerl, die ihm jetzt schwer im Magen liegen. „Ab heut ess i koa Fleisch mehr. Jetzt is´ vorbei“, äußert er fest entschlossen und blickt zu seinem Nebenmann, der schweigend nickt.
Kurz vor 20:30 Uhr, es ist dunkel geworden, die Fußgängerzone hat sich weitgehend geleert. Eine angetrunkene Frau mit Flipflops beginnt zu den letzten Klängen der besinnlichen Musik zu tanzen. Ihr Stil passt nicht zum Thema und ihre zusammengekniffenen Augen suchen eindeutig nach etwas anderem.