Anlässlich des brasilianischen Unabhängigkeitstags findet eine 26-stündige Mahnwache am Münchner Stachus statt. Die Umweltschutzbewegung „Extinction Rebellion“ kämpft für den Erhalt des Regenwaldes.
„Wir sind am Arsch“ steht auf rosa Aufklebern, die neben einem Grablicht drapiert sind. Wenngleich der Spruch suggeriert, dass es zu spät ist für eine Umkehr, haben sich zirka dreißig Umweltaktivisten von „Extinction Rebellion“ (XR) am Karlsplatz in München zusammengefunden. Sie veranstalten eine 26-stündige Mahnwache für den Erhalt des Regenwaldes. Aktueller Anlass: der brasilianische Unabhängigkeitstag am 7. September.
Auf der Bühne steht eine junge blonde Frau vom „Antikapitalistischen Klimatreffen“ und liest mit leiser, monotoner Stimme ihre Rede vom Smartphone ab – hinter ihr ein Leinenbanner mit der Aufschrift „Kapitalismus stürzen – Klima retten“. Vor dem Podium prangen in riesigen schwarzen Lettern auf weißem Grund die Worte „For Amazonia“. Rechts vom Rednerpult entdeckt man Portraits von indigenen Umweltaktivisten. Drei menschengroße vertikale Käfige aus Maschendraht sind zwischen diversen Bannern aufgereiht. In den Käfigen befinden sich drei Menschen: einer mit Schweinemaske, einer mit Kuhmaske und ein weiterer mit blutverschmiertem Metzgerkittel. Das sind die Aktivisten von „Animal Rebellion“.
Akteure und Publikum der Veranstaltung sind ein buntes Gemisch verschiedener Organisationen, die sich unterschiedlichen Zielen verschrieben haben: der große Rundumschlag. Alles in einem Topf und umgerührt? Ganz so einfach ist es nicht. Die Zutaten der Klimaerwärmung lassen sich nicht auseinander dividieren: Der Kapitalismus beutet die Umwelt aus und der weltweit steigende Fleischverzehr führt zur weiteren Abholzung des Regenwaldes. Soweit, so logisch. Die Reizüberflutung des Protests ist dennoch verwirrend, da die vielen Informationen wenig überschaubar sind und alles querbeet stattfindet. „Das Thema ist vielfältig und wir versuchen die Komplexität zu vermitteln“, erklärt Lisa Poettinger.
Die Worte fließen aus ihr heraus, als ob es kein Morgen gäbe
Lisa Poettinger, 24, Pferdeschwanz, bunter Schal und rubinrote Strickjacke, war eben noch am Mikrofon und hat den Leuten zugerufen: „Wollt ihr laut sein?“ Schon wuselt sie zwischen Passanten herum und erklärt, warum die Menschheit spätestens jetzt handeln muss, um den Klimawandel und das Artensterben zu begrenzen. Kurz darauf sammelt sie mit einer kleinen Blechdose Spenden für die indigene Bevölkerung und steht plötzlich wieder auf der Bühne, um den nächsten Redebeitrag anzukündigen. Die Hobbyfußballerin ist es gewohnt, in Bewegung zu sein. Auch die Worte fließen aus ihr heraus, als ob es kein Morgen gäbe: „Im Amazonas brennt es in diesem Jahr schlimmer als im letzten. Und 2019 war schon ein verheerendes Katastrophenjahr.“
Es ist ein grauer und regennasser Sonntagnachmittag. Der moderne, ebenerdige Springbrunnen am westlichen Eingang zur Münchner Altstadt ist versiegt und dient als Protestgelände. „Finger weg vom Regenwald“ oder „Wer braucht schon Holland?“ ist auf bunten Plakaten zu lesen. Lateinamerikanische Trommelklänge der 20-köpfigen Power-Percussion-Gruppe „Bateria Z“ zertrümmern einem fast das Trommelfell. Viele Schaulustige tanzen zum rhythmischen Samba-Sound oder schießen Selfies vor den blau-weiß gekleideten Perkussionisten.
Das runde Veranstaltungsgelände bietet Platz für mindestens zweihundert Teilnehmer (selbst wenn die aktuellen Corona-Abstandsregeln eingehalten werden) – gekommen sind etwa dreißig. Poettinger erläutert die Gründe: „Zum einen ist das Wetter schlecht und zum anderen sind viele Menschen durch Corona verunsichert.“
„Die Welt ist korrupt“
Johann Hinz lehnt lässig an einem Absperrgitter. Wenig beeindruckt ist er vom Protest. Sein Kopf ist kahl rasiert. Zähne hat er nur noch wenige im Mund. Der 57-Jährige nimmt sich Zeit, das Spektakel zu beobachten. Seine Meinung: „Des bringt nix. Die paar Hanseln da erregen doch kein Aufsehen. Es müssten viel mehr Teilnehmer sein. Dann wird der Platz dichtgemacht und die Leute würden sagen: Hoppla, was ist denn da los?“
Ein weiterer Zaungast ist Ludwig, 66: lange schlohweiße Haare, Weihnachtsmannbart und Jeans-Outfit. Für den Taxifahrer ist der Karlsplatz ein alltäglicher Arbeitsort. Breitbeinig und mit verschränkten Armen steht der schlanke Mann vor seinem Taxi und blickt mit reichlich Abstand auf die Veranstaltung: „Die Leute, die der Protest überzeugt, haben keine Macht und können nichts verändern. Die Welt ist korrupt.“
Für den Aufstand gegen das Aussterben, was „Extinction Rebellion“ übersetzt heißt, nimmt Lisa Poettinger viel in Kauf: Zwanzig Stunden wöchentlich engagiert sie sich für den Naturschutz, neben ihrem Lehramts- und Schulpsychologiestudium. Bei einem Die-in (einer Demonstrationsform, bei der sich die Teilnehmer wie tot auf den Boden legen) sei jemand auf sie getreten und habe ihr zugerufen: „Scheiß Schmarotzer, da muss man drauftreten.“ Die Sorge um die Zukunft des Planeten treibt sie nicht nur auf die Straße, sondern beeinflusst auch ihre persönliche Lebensplanung. Sie liebe Kinder über alles und wollte immer Mama werden, aber: „Angesichts der Klimakrise möchte ich keine Kinder bekommen. Die Welt von morgen kann ich keinem Kind antun.“
Unter einem Pavillon wird sie die kommende Nacht verbringen. Es gebe noch Planen, die sie aufspannen können, für den Fall, dass es stärker regnet. Egal, wie es kommt: „Ich bleibe hier und fertig“, sagt sie festentschlossen. Auf die Frage, ob ihr Schlafsack warm genug sei, entgegnet sie: „Das wird sich herausstellen – hoffentlich“ und lacht.
„Viele Passanten haben an den Inhalten kein Interesse“
Montagmorgen, 8:30 Uhr, es hat aufgehört zu regnen. Der morgendliche Autoverkehr rauscht am verwaisten Veranstaltungsgelände vorüber. In Pfützen spiegeln sich durchgeweichte Demonstrationsbanner. Lisa Poettinger ist nicht zu entdecken. Am Rande des Geländes unter einem weißen Pavillon sitzen Benjamin, Ada und Emelie. Die jungen Leute sind in Decken gehüllt und haben goldfarbene Rettungsfolien über den Beinen. Die 15-jährige Emelie berichtet: „Ich war die ganze Nacht hier. Klar, es war kalt, aber isso. Was soll man anderes machen.“ Und dann ist da noch Sibylle Schade: „Mutter, du kommst mit“, sagten ihre erwachsenen Kinder. Deshalb steht sie seit drei Uhr nachts am Karlsplatz, um für die Zukunft der Erde zu kämpfen.
Montag Spätnachmittag, die Mahnwache neigt sich dem Ende entgegen. Eine andere Trommelgruppe mit gelber Kleidung produziert wieder ohrenbetäubende Klänge. Junge Männer sitzen am Rand der Veranstaltung und starren auf ihr Handy. Eine Frau mit Kopftuch beißt in ihren Fischmac. Der 19-jährige Mark ist stehengeblieben, dreht sich eine Zigarette und hat keine Ahnung, um was es bei dem Protest geht. Er ist so schnell verschwunden, wie er aufgetaucht ist. Das Bild der Veranstaltung ist ähnlich wie am vergangenen Tag: Spielen Trommelgruppen, ist der Auflauf groß, werden Reden gehalten, flaut das Interesse der Passanten schnell ab. Auch die Anzahl der Teilnehmer ist überschaubar geblieben.
Lisa Poettinger beantwortet Fragen, verteilt vielfarbige „Act for Amazonia“-Flyer, checkt den Ablaufplan und macht Zwischenansagen. Gefroren habe sie letzte Nacht nicht. Sie konnte gut schlafen, nachdem sie Ohropax verwendet hatte. Die Aktivistin ist etwas enttäuscht: „Es ist schade, dass nicht mehr Teilnehmer gekommen sind und viele Passanten an den Inhalten wenig Interesse zeigen.“ Sie glaube trotzdem, dass sie einigen Leuten ihr Anliegen vermitteln konnten: „Wir haben viel Zuspruch bekommen, das ist schön.“
Weitere Informationen: Der Amazonas brennt