Ein Drittel der weltweiten Lebensmittel wird für die Mülltonne produziert. Wir Deutschen werfen jährlich 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weg. Es gibt Menschen, die diesem Wahnsinn ein Ende setzen wollen – sie containern.
In Deutschland ist Containern verboten und gilt als Diebstahl. Unter Umständen kommen bei einer Anzeige noch Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung als Tatbestände hinzu.
„Wie kann diese Bewegung illegal sein? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?“, frage ich mich, während der Blick in die Ferne schweift. Ich sitze im Bus, bin auf dem Weg zum Treffpunkt. Ich bin gespannt, was mich heute erwartet und etwas nervös.
Sarah – Anfang 20, freche Frisur, angehende Studentin der Physik – wartet schon am Eingang des Supermarktes auf mich. Sie hat sich bereiterklärt, mich heute auf ihrem Streifzug mitzunehmen.
Es ist noch angenehm warm an diesem Septembertag. Wir sitzen auf einem Bordstein. Sarah gewährt mir Einblick in ihre Gedanken zum Thema Lebensmittelverschwendung. Ihr damaliger Freund brachte sie auf das Containern. „Ich lernte Leute kennen, die ausschließlich vom Containern und Weggeworfenem lebten, sie hinterlassen praktisch keinen Fußabdruck auf der Welt.“ So radikal will sie zwar nicht leben, aber es imponiert ihr. Sie begann, ihr eigenes Konsumverhalten zu beobachten und zu
reflektieren.
„Gute Nahrungsmittel sollten einfach nicht im Müll liegen“
Steht sie wieder einmal vor einer gut gefüllten Tonne, schwankt sie zwischen Euphorie und Schrecken bis hin zur Verachtung. Verachtung gegenüber unserer Konsum- und Wegwerfgesellschaft, aber auch sich selbst. Sie ist strikt gegen Lebensmittelverschwendung, versucht nachhaltig zu leben. „Immer schaffe ich das aber auch nicht“, gesteht sie sich ein. Ich frage mich, ob man das überhaupt immer sein kann.
Sarah versteht nicht, warum die Wegnahme weggeworfener Lebensmittel Diebstahl sein soll. Da sind wir schon zwei. Angst davor erwischt zu werden, hat sie – im Gegensatz zu mir – keine.
Es ist viertel vor neun, als wir aufstehen und in Richtung Lagerraum gehen. Während Sarah zielgerichtet die Container ansteuert, checke ich zunächst die Umgebung ab. “Was ist das?” schrecke ich auf. Hinter einem der großen verschlossenen Rolltore sind leise mechanische Geräusche, wie die eines Gabelstaplers, zu hören. Verunsichert frage ich Sarah, was sie davon hält: “Oh! Nein, das ist nicht normal. Wir sollten gehen!” Schnellen Schrittes verschwinden wir dahin, woher wir gekommen sind – ins Dunkle.
Wir lassen uns vom ersten missglückten Versuch nicht abschrecken und pirschen uns 15 Minuten später erneut an. Dieses Mal ist es still. Ein Bewegungsmelder verkündet unsere Ankunft und richtet seine Scheinwerfer auf uns. Ein beklemmendes Gefühl habe ich schon. “Pass auf, hier liegen Maden”, warnt mich Sarah eher flüsternd vor und reißt mich aus meiner Gefühlswelt. Ich tänzle an ihnen vorbei zur ersten Tonne. Gespannt öffnen wir sie und – tada – in einer ansonsten leeren Tonne liegt wie auf einem Präsentierteller eine Packung Sushi. “Nimm mich mit! Ich laufe erst in vier Tagen ab”, scheint sie mir entgegen zu schreien. Sarah freut sich und steckt sie ein.
Augen zu und durch
Wir klettern auf die nächste Kiste. Als der Deckel aufgeht, weiß ich, warum die meisten Menschen Containern eklig finden. Ein fauliger, leicht süßer Gestank findet augenblicklich seinen Weg in meine Nase. Man erkennt sofort, woher er stammt: Schimmliges Obst. Sarah erzählte mir vorher, ihr Ekelempfinden sei nicht sonderlich groß. Das merke ich jetzt. Ohne zu zögern nimmt sie eine Packung Riegel aus der Tonne, öffnet die verdreckte und nasse Papierverpackung und zieht fröhlich die einzeln in Plastik verpackten Riegel heraus. Begeistert von deren Unversehrtheit nehme auch ich mir einen Riegel mit nach Hause.
Ehe ich mich versehe, verschwindet auch meine Hand im Container und tastet, was sie ergattern kann. Ich hatte gedacht, es würde mich eine größere Überwindung kosten. Ekel kommt nur kurz auf, wenn meine Finger mit dem Siff in Berührung kommen – was allerdings häufig der Fall ist. Auf einmal erstarren Sarah und ich in unseren Bewegungen. Vor uns taucht aus dem Nichts ein Fahrradfahrer auf und kommt zielgerichtet auf uns zu. Mein Herz in der Hose blicke ich Sarah hilfesuchend an. Ihr Gesichtsausruck verrät nichts Gutes. „Das war’s!“, bricht es aus ihr heraus.
Unerwarteter Besuch
Der Fremde steigt von seinem Rad, setzt seine Kapuze auf. Alles wirkt wie in Zeitlupe. „Und, ist heute was Gutes dabei?“ Sarah erzählt erleichtert vom heutigen Fund. Ich hingegen beobachte den Mann argwöhnisch. Er merkt wohl, dass ich neu in der Szene bin. Er blickt mich ernst an und sagt leise: „Schau mal rechts hinter mich.“ Das muss er sein, der Moment, an dem er mir eröffnet, dass ich auf frischer Tat ertappt wurde. „Da ist eine Kamera.“, scheint er meine Gedanken zu bestätigen.
Doch das schien lediglich in meinem Kopf zu existieren. Der Fremde will mich nur warnen.
Zu Dritt inspizieren wir die restlichen Tonnen. Bis zum Schluss bin ich irritiert von diesem Mann. Ich kann mich nur schwer auf die vielen Lebensmittel konzentrieren, die quasi für uns bereit liegen. Eine Tonne ist gefüllt mit frischem (BIO-)Gemüse und Obst: leuchtend grüner Schnittlauch, sonnengelbe Zucchini, verpackte Äpfel und Salate. Wir könnten problemlos ein schmackhaftes 3-Gänge-Menü kochen und zum Nachtisch Schoko-Muffins kredenzen. Was für ein Fest.
Noch bevor meine Eindrücke das Gehirn erreichen, verabschieden wir uns von dem Fremden und gehen aus der rechtlichen Grauzone in die Legalität zurück. „Willst du einen Schokokeks?“ fragt Sarah freundlich und hält mir die containerte Kekstüte entgegen. „Sie sind seit Mai abgelaufen.“ Der Keks schmeckt zwar etwas alt, aber das schmeckt der aus dem Schrank meiner Oma auch.
Sarah begleitet mich zu meinem Bus. „Die heutige Beute war eher mau.“, sagt sie „Es gibt Container-Cracks, die genau wissen, wann und wo die Tonnen geleert werden. Die kommen mit Palletten bester Lebensmittel nach Hause.“ Ihr tollster Fund war eine große Tonne randvoll mit Osterhasen von Lindt. „Verdammt, warum war ich da nicht dabei?“, witzele ich, meine es aber durchaus ernst.
Als ich im Bus sitze reguliert sich mein Adrenalinspiegel, die vielen Eindrücke sacken. Ich beginne zu begreifen. Was ist das für eine absurde Welt, in der Menschen verhungern – immer noch – und wir Lebensmittel in den Müll schmeißen, weil eine Zahl es sagt oder die Optik nicht dem „Ideal“ entspricht? Und wie völlig absurd ist es, dass Menschen rechtlich belangt werden, weil sie dagegen protestieren, weil sie kein Teil dieser Verschwendung sein möchten?
Als ich zu Hause ankomme, schüttele ich den Kopf, noch immer ungläubig: „Ich lebe in einem privilegierten Land. Bedeutet: Meine Privilegien, meine Verantwortung.“ denke ich und öffne die Tür zu meinem Kühlschrank …
Hilfreiche Materialen der Welthungerhilfe: