Rezension „Lie to me“: Jeder Mensch hat etwas zu verbergen

25. Oktober 2017
Rezension „Lie to me“: Jeder Mensch hat etwas zu verbergen

„Lie to me“ zeigt, wie man seine Sinne schärfen kann, um Schwindler schneller zu entlarven. Und warum dieses Wissen nicht immer von Vorteil ist. Eine Rezension.

„Haben Sie Ihre Tochter umgebracht?“, fragt Dr. Cal Lightman in der TV-Serie geradeheraus das Ehepaar, das seit zwei Monaten seine elfjährige Tochter vermisst. Die Reaktion: Entsetzen, Fassungslosigkeit, Abscheu. „Wie können Sie so etwas überhaupt fragen?! Nein!“, fährt der Vater Dr. Lightman an. Das reicht dem Wahrheitsforscher, um seine Arbeit zu beginnen. „Lie to me“ lebt von schockierenden Momenten wie diesen.

Wahrheit ist ein gefragtes Gut

US-Gouverneurs, Schuldirektoren, NASA-Astronauten, Poker-Spieler, Soldatinnen der US Army, Hausfrauen, Feuerwehrmänner – sie funktionieren in der US-amerikanischen Serie „Lie to me“ alle nach dem gleichen Prinzip. Daher sehen die Mitarbeiter der Lightman Group ihnen sofort an, was sie bewegt. Weil sich ihr Gesicht bewegt. Die Augenbrauen schnellen hoch, die Nase kräuselt sich oder die fächerförmigen Falten am Augenrand werden sichtbar. Lügen scheinen durch. Dein Körper verrät, was Du zu verbergen versuchst.

„Emotions have signals, they are not silent. Thoughts are silent.“ – fasst der Psychologe Dr. Paul Ekman den Ausgangspunkt seiner langjährigen Forschung und zugleich die Grundidee der Serie „Lie to me“ zusammen. Er sieht Menschen die sieben Basisemotionen an: Angst, Ekel, Freude, Trauer, Überraschung, Verachtung und Zorn. Die Gedanken, die in den Menschen vor sich gehen, kann er hingegen nicht wissen.

Die Serienautoren Sam Baum und Sean Ryan machten aus diesem wissenschaftlichen Ansatz, den Dr. Ekman in den vergangenen 50 Jahren entwickelt hat, eine Krimiserie. Dabei dreht sich viel um Mord und Totschlag – aber nicht alles. Oftmals benötigen die Polizei, das FBI oder Vertreter der Politik die Hilfe der „menschlichen Lügendetektoren“ der Lightman Group, um Verdächtige zu überführen. Oftmals geht es auch um Prävention, um Menschen vor einem Angriff oder Anschlag zu bewahren.

Mit Eigensinn der Wahrheit auf der Spur

Die Lightman Group, geführt von Dr. Cal Lightman und Dr. Gillian Foster, deckt zentrale Emotionen auf. Sie weiß innerhalb kurzer Zeit, ob eine Person die Wahrheit sagt oder etwas verbergen will. Um seine Erkenntnisse zu untermauern, untersucht das Team auch die Geschichte und das Umfeld eines potenziellen Täters. Es analysiert Videoaufnahmen, Schwankungen der Stimmlage, Veränderungen in der Handschrift – alles, um ein vollständiges Bild von einem Verdächtigen zu erlangen. Nicht selten weichen ihre Ergebnisse von der Meinung ihrer Auftraggeber ab – und Dr. Lightman zeigt seinen ganzen Eigensinn, seine Sturheit und auch seine wissenschaftliche Überlegenheit, wenn er sie von der „echten“ Wahrheit überzeugen will.

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Seine Oma denkt bestimmt auch, er hat’s nicht getan. Das ist genauso verlässlich wie ein Lügendetektor!

Dr. Cal Lightman

Von mechanischen Lügendetektoren hält Dr. Lightman wenig: „Seine Oma denkt bestimmt auch, er hat’s nicht getan. Das ist genauso verlässlich.“ Die Suche nach der Wahrheit ist nicht einfach und niemals ist die naheliegende Person der Schlüssel zu einem Fall. Das macht es auch so spannend.

Die Wahrheitsforscher sehen ganz genau hin. Die so genannten Mikroexpressionen des Gesichts passieren unfreiwillig und unbewusst. Wer wütend oder verärgert ist, zieht die Augenbrauen zusammen und presst meist die Lippen aufeinander. Der Gesichtsausdruck kann nur kurz aufblitzen – innerhalb von rund einer fünfzehntel Sekunde. Die meisten Menschen können diese Expressionen bei anderen nicht einmal wahrnehmen.

Ob Prominente oder normale Menschen – jede Emotion sieht gleich aus

Wenn Dr. Lightman eine Emotion aufspürt, die den Fall voranbringt, werden prominente Gesichter mit vergleichbarer Mimik eingeblendet: der verkniffene Mund von Richard Nixon, der verärgerte George W. Bush, die angeekelte Queen Elizabeth. Nebeneinander betrachtet, wird auch für Laien offensichtlich: Ausdrücke von Emotionen sehen bei allen Menschen in allen Kulturen gleich aus. Dennoch bedarf es viele Jahre des Trainings, um diese zuverlässig zu erkennen. Was Segen und Fluch zugleich sein kann, wie Dr. Lightman zu seiner Ex-Frau sagt: „20 Jahre Forschung würde ich nicht als Gabe bezeichnen. Du und ich wissen, dass es eher ein Fluch sein kann.“ Manchmal gestalten sich persönliche Beziehungen einfacher, wenn jeder seine kleinen Geheimnisse für sich behält.

Die beiden Hauptdarsteller, gespielt von Tim Roth und Kelli Williams, sorgen für eine faszinierende Dynamik in der Serie. Er als der emotional distanzierte, kantige und hartnäckige Ermittler, der unerschrocken und oftmals ganz schön lebensmüde die Wahrheit sucht. Seine Gefühle lässt er ausschließlich gegenüber seiner Tochter zu. Dr. Foster als seine ausgeglichene und vernünftige Geschäftspartnerin, der die Fälle manchmal zu nahe gehen und die sich um ihn sorgt, wenn er sich zu nah an die bösen Jungs heranwagt. Sie ergänzen sich, sie passen aufeinander auf – und sind so viel mehr als reine Partner. Einen Puffer zwischen den beiden bieten die Darsteller der Ria Torres (Monica Raymund) und des Eli Loker (Brendan Hines), beide ehrgeizige Mitarbeiter der Firma, die ihre Chefs tatkräftig dabei unterstützen, die Fälle zu lösen.

 

Fiktion und Realität in „Lie to me“

Der Protagonist von „Lie to me“, Dr. Cal Lightman, ist in Grundzügen an Dr. Ekman angelehnt. Einige Episoden beziehen sich auf Ekmans echte Erfahrungen. Beispielsweise unterrichtete dieser tatsächlich FBI-Agenten darin, zu erkennen, wie man Verbrechen im letzten Moment verhindern kann. Auch Forschungsreisen nach Papua Neuguinea hatte der „echte“ Wissenschaftler 1967 und 1968 unternommen, um die Mimik eines zurückgezogenen Stammes zu studieren. In den Bildern, die darüber in der Serie auftauchen, wurde allerdings dem wahren Wissenschaftler das Gesicht von Dr. Lightman aufgesetzt. Natürlich mit Dr. Ekmans Einverständnis.

Die Zusammenarbeit von TV-Produzenten und dem Wissenschaftler war sehr intensiv, wie Dr. Ekman auf der Website zur Serie schreibt: Der Produzent David Nivens versprach ihm 2009, er dürfte jedes Skript vor dem Dreh lesen und Verbesserungsvorschläge machen. Er äußerte den Wunsch, dass der Hauptdarsteller ihm von der Biografie her möglichst wenig ähneln solle – und bekam Tim Roth.

Die Schauspieler waren etwas eingeschüchtert von dem „gedankenlesenden“ Wissenschaftler am Set. Tim Roth verrät in den Interviews des „Behind-The-Scenes“-Materials zur Serie: „Wir haben versucht, die Wissenschaft abzubilden und Ekmans Welt gerecht zu werden. Das war allerdings eine holprige Angelegenheit. Die Welt, in der Dr. Ekman agiert, ist komplett anders als die in ‚Lie to me‘.“ Drehbuchautor Sam Baumer betont, dass Dr. Ekmans Erkenntnisse und Vorgehensweisen die Serie stark inspiriert hätten und sein Feedback zum Drehbuch unglaublich wertvoll gewesen sei: „Ich hätte mir nicht vorstellen können, die Serie ohne ihn zu drehen.“ Der Wissenschaftler selbst zeigte sich beeindruckt von den Verantwortlichen am Set und freudig überrascht von der Aufmerksamkeit, die seine Arbeit durch die Serie erlangte.

WISSENSCHAFT LEICHT VERPACKT

Dr. Ekman verfasste seit Ausstrahlung der Serie 2009 einen Blog mit dem Titel „The truth behind ‚Lie to me'“, in dem er jede einzelne Folge kommentierte: Welche Gesichtssignale angesprochen werden, wie die Interpretation ausfällt – und wie er diese aus seiner persönlichen Erfahrung beurteilt. Keine Rezension in dem Sinne, sondern eine kritische Bewertung aus Sicht der Wissenschaft. Es scheint, als hätten die Serienproduzenten zwar gute Arbeit geleistet, aber seine reale Arbeit lasse er sich doch nicht nehmen. Oftmals könne man anhand einer Mikroexpression eben nicht zu 100 Prozent von einem bestimmten Gefühl ausgehen. Die Überzeugung, die Dr. Lightman und Dr. Foster in der Serie an den Tag legen, ist also doch eher „for the show“.

Dennoch ist „Lie to me“ ungewöhnlich und lehrreich aufgezogen. Sie führt einem vor Augen, wie stark Menschen zum Lügen und Vertuschen neigen – und wie weit sie damit kommen. Manche Geschichten sind schockierend real, gerade wenn es um Themen wie Terror oder Krieg geht. Andere wirken etwas konstruierter wie der Fall einer jungen Frau mit einer multiplen Persönlichkeitsstörung, auf die sich die Mitarbeiter von Dr. Lightman wie die Tiere auf ein gefundenes (wissenschaftliches) Fressen stürzen.

Den Geschichten liegt ein wahrer Kern zu Grunde und der Zuschauer lernt mit der Zeit, welche eindeutigen emotionalen Signale es gibt. Man kann zwar versuchen, die eigene Mimik beim alltäglichen Flunkern zu kontrollieren. Aber seit „Lie to me“ ist offensichtlich: Es ist quasi unmöglich. Das Unterbewusstsein ist einem stets eine fünfzehntel Sekunde voraus.

 

Dr. Lightman mit Tochter Emily – © Fox/Isabella Vosmikova
Dr. Lightman mit Tochter Emily – © Fox/Isabella Vosmikova
Lie to me: Angst als Mikroexpression – © Fox/Frank Oeckenfels
Lie to me: Angst als Mikroexpression – © Fox/Frank Oeckenfels
Mikroexpressionen prominenter Personen - © Fox/Patrick Wymore
Mikroexpressionen prominenter Personen - © Fox/Patrick Wymore
Dr. Foster und Loker beim Verhör – © Fox/Mike Yarish
Dr. Foster und Loker beim Verhör – © Fox/Mike Yarish
Lie to me: Dr. Lightman verhört eine Soldatin - © Fox/Mike Yarish
Lie to me: Dr. Lightman verhört eine Soldatin - © Fox/Mike Yarish
Titelbild: © Fox / Frank Ockenfels
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