In einer Welt, in der der Tod oft tabuisiert wird und das Sterben hinter verschlossenen Türen stattfindet, gibt es Menschen wie Anita Brust, die eine Brücke in diese andere Realität bauen. Als Sterbebegleiterin beim Erwachsenenhospizdienst Mosbach setzt sie sich ehrenamtlich für das “in Würde sterben” ein und teilt ihre Erfahrungen und Gedanken mit uns in diesem Interview.
Frau Brust, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für das Gespräch nehmen. Sie arbeiten ehrenamtlich als Sterbebegleiterin bei einem ambulanten Hospizdienst. Was kann ich mir darunter vorstellen?
Anita Brust: Wenn jemand unheilbar erkrankt ist oder im Sterben liegt, kommen meist Privatpersonen, Familien oder Angehörige, Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen mit einer Anfrage auf unseren Hospizdienst zu. Hier suchen sie Hilfe und Unterstützung, auch zur Beruhigung, denn viele Familienangehörige sind mit der Situation überfordert.
Wenn jemand von außerhalb der Familie hinzukommt, kann das sehr hilfreich sein. Man ist nicht in die Familienstruktur eingebunden und nimmt vieles anders wahr. Man kann es so beschreiben: Die Philosophie des Begleitens beruht darauf, für den Schmerz einer anderen Person präsent zu sein; nicht darum, ihren Schmerz verschwinden zu lassen.
Bei Begleitung geht es darum, mit einem anderen Menschen in die Wüste der Seele zu gehen; nicht daran zu glauben, dass wir dafür verantwortlich sind, den Weg herauszufinden. Es geht darum, den Geist zu ehren; nicht sich auf den Intellekt zu konzentrieren. Es geht darum, mit dem Herzen zu hören; nicht mit dem Kopf zu analysieren.
„Die Philosophie des Begleitens beruht darauf, für den Schmerz einer anderen Person präsent zu sein, nicht darum, ihren Schmerz verschwinden zu lassen.“
Anita Brust, Sterbebegleiterin
Ihre Arbeit als Sterbebegleiterin umfasst also die Unterstützung der Familie als auch des Sterbenden selbst?
Anita Brust: Genau, wir sind einfach für beide da. Wir nehmen uns Zeit, hören zu. Wir führen Gespräche, beten oder singen. Die Sterbebegleitung bezieht sich nicht nur auf den Patienten, sondern schließt auch die Unterstützung der Familie ein. Wir möchten der Familie die Möglichkeit geben, in diesen Wochen und Tagen ganz füreinander da zu sein, sich vielleicht noch zu versöhnen. Die Familien sind sehr dankbar, in ihrem Leid nicht alleine zu sein.
Sie sind dankbar für unsere Geduld, unser Verständnis und vor allem für unsere Empathie. Und bitte verstehen Sie mich nicht falsch, dies ist keine “Arbeit”. Es ist eine Berufung, und ich spreche hier auch für andere, die sich in diesem Bereich engagieren. Wir sind mit Herz und Seele dabei.
„Es macht mir Freude, für andere da zu sein.“
Anita Brust, Sterbebegleiterin
Warum haben Sie sich für diese Aufgabe entschieden?
Anita Brust: Als ich 24 Jahre alt war, verstarb meine Großmutter. Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Dabei erwuchs der Wunsch in mir, anderen Menschen in solch einer Situation beizustehen. Es macht mir Freude, für andere da zu sein. Viele Menschen in Deutschland sterben oft einsam und ohne Würde. Sie leiden unter Schmerzen und körperlicher Schwäche.
Oft sind Angehörige mit der Situation überfordert, haben keine Ansprechpartner. Schwerstkranke und Sterbende erleben durch den Verlust an Selbstbestimmung soziale Isolation und Abhängigkeit. Ihre Würde ist verletzt, sie fühlen sich einsam und unverstanden. Viele sterben allein in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Man versucht den Tod aus dem gesellschaftlichen Leben zu tabuisieren. Der einst öffentliche Tod wird in unserer Gesellschaft zum “verbotenen Tod”, zum Tabu.
Das Sterben wird aus der Familie in öffentliche Institutionen verlagert. Man möchte nichts damit zu tun haben. Doch das Sterben gehört für mich zum Leben dazu. Sterbebegleitung bedeutet für mich, mit dem Sterbenden auf eine Reise zu gehen, ihn ein Stück seines Weges zu begleiten. Ich möchte Menschen helfen, in Frieden und in Würde zu sterben. Ich möchte Ihnen ein Lächeln mit auf ihren Weg geben.
„Ich werde mit meinen eigenen Gefühlen konfrontiert, aber ich habe gelernt, sie anzunehmen und aus einer anderen Perspektive zu betrachten.“
Anita Brust, Sterbebegleiterin
Wie wichtig ist es, eigene persönliche traumatische Erlebnisse oder Erinnerungen zu verarbeiten, um nicht immer wieder neu ausgelöst oder getriggert zu werden?
Anita Brust: Während meiner 10-monatigen Ausbildung zur Sterbebegleiterin 2010 habe ich mich intensiv mit meinem eigenen Leben auseinandergesetzt, und das war gut. Man bekommt einen anderen Blickwinkel, weil der Tod zum Leben dazu gehört. Was aber auch sehr wichtig ist, ist die Trauer. Wenn man nicht trauert, verdrängt man, und das belastet den Körper. Ich werde mit meinen eigenen Gefühlen konfrontiert, aber ich habe gelernt, sie anzunehmen und aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Dadurch kann ich besser damit umgehen.
Der Glaube spielt für mich eine große Rolle. Wenn ich glaube, dass der Sterbende nach dem Tod von Schmerzen befreit ist, kann das ein großer Trost für die Familie, die Hinterbliebenen und den Sterbenden selbst sein. Ganz gleich, welche Glaubensrichtung jemand hat, im Tod sind wir alle gleich. In den Religionen haben Engel eine große Bedeutung. Überall gibt es diese schönen Himmelswesen.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Augen der Sterbenden strahlen, wenn man über Engel spricht, und dass die Engel uns begleiten. In unserer Gesellschaft werden Themen wie Abschied, Sterben, Tod und Trauer oft tabuisiert. Dabei ist es unheimlich wichtig, offen darüber zu sprechen. Warum? Um Ängste zu nehmen, zu beruhigen, um besser damit umzugehen. Sterben ist nicht schön, man will es nicht. Und dabei ist es ein ganz natürlicher Teil unseres Lebens.
Gibt es eine Erfahrung, die Sie geprägt hat?
Anita Brust: Wir hatten Fortbildungen, bei denen auch das Thema Tod und Trauer behandelt wurde. Ein Arzt, der gleichzeitig Sterbebegleiter war, sprach über eine Erfahrung, die er gemacht hatte. Ich erinnere mich an den Fall eines sehr starken Mannes, der Familienoberhaupt war und niemals Schwäche zeigte. Er lag im Sterben und konnte nicht loslassen, konnte nicht sterben.
Der Arzt, der ihn damals begleitete, schickte die Frau des Mannes aus dem Raum, obwohl sie rund um die Uhr bei ihm war. Dann sprach er mit dem Mann und hörte, dass dieser nicht schwach erscheinen wollte. Doch der Arzt nahm ihn in den Arm, und in diesem Moment konnte der Mann loslassen und sterben.
Der Arzt erzählte uns aus seiner Erfahrung und das hat mich tief beeindruckt. Es weckte in mir den Wunsch, ebenfalls jemandem auf diese Weise helfen und beistehen zu können, um sein Leiden zu erleichtern und einfach da zu sein. Ich erinnere mich noch an die Fragestellung “Was möchtest du am Ende deines Lebens?” Die Antwort war, dass man am Ende alleine mit seinem Schöpfer sein möchte, ohne sich auf etwas Anderes konzentrieren zu müssen.
„Die meisten Sterbenden oder Verstorbenen strahlen Ruhe und Frieden aus.“
Anita Brust, Sterbebegleiterin
Aus Ihrer Erfahrung heraus: Stirbt jeder Mensch anders?
Anita Brust: Ja, auf jeden Fall. Ich hatte einen Freund, den ich vor zweieinhalb Jahren begleitet habe. Er war 53 Jahre alt und hatte einen Hirntumor. Er wollte nicht sterben, hat es seiner Frau auch mehrmals gesagt und dabei geweint. Es war sehr schwer, ihn so zu sehen. Aber in den letzten beiden Tagen vor seinem Tod war er ganz ruhig und entspannt. Die meisten Sterbenden oder Verstorbenen strahlen Ruhe und Frieden aus, auch wenn es zuvor einen längeren Leidensweg gab. Sterben ist ein heiliger Moment. Man kann das Fenster öffnen und sagen „Flieg, Seele, flieg. Du bist jetzt frei“.
Was ist sterbenden Menschen am Ende ihres Lebens wichtig? Was rückt in den Mittelpunkt und was tritt mehr in den Hintergrund, also worauf fokussieren sie sich?
Anita Brust: Ich denke, der Frieden steht an oberster Stelle. Und es soll alles gesprochen, geregelt sein. Das ist beruhigend. Viele Sterbende warten oft auch, dass niemand von den Angehörigen mit im Raum ist, als Schutz für beide. Es fällt jedem schwer, einen geliebten Menschen sterben zu sehen, Abschied voneinander zu nehmen. Manche möchten im Sterben mit ihrem Schöpfer alleine sein. Jeder Mensch stirbt auf seine eigene Art und Weise.
“Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.”
Cicely Saunders, Ärztin und Pionierin der Hospizbewegung
Als Begründerin der modernen Hospizidee gilt die englische Krankenschwester und Ärztin Cicely Saunders. Wie interpretieren Sie ihr Gedankengut im Kontext Ihrer Arbeit?
Anita Brust: Cicely Saunders gilt als Mutter der modernen Hospizbewegung. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie Krankenschwester und erlebte das Leid der Sterbenden, die alleine waren. Sie sah, wie unwürdig es ist, Menschen allein sterben zu lassen. Sie war der Überzeugung, dass Sterbende eine ganzheitliche Betreuung benötigen, die sowohl seelischen Beistand als auch medizinische Hilfe zur Schmerzlinderung einschließt.
Ihr Hauptgedanke war, dass man bis zum Schluss das Leben lebt. Von ihr stammt der viel zitierte Leitsatz der Hospizbewegung: “Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.” Es ist von großer Bedeutung, und war für sie besonders wichtig, dass das Leben eines Menschen bis zum Ende zählt und niemand einfach abgestempelt oder beiseitegeschoben wird. Früher wurde man in vielen Krankenhäusern in ein karges Zimmer verlegt, um allein zu sterben. Das war inakzeptabel und unwürdig. Das Herzstück der Hospiz-Bewegung ist das “in Würde sterben”.
Von Cicely Saunders stammt auch das Zitat: “Sterben ist die Chance, sich bei Freunden und Familie zu bedanken und in Frieden zu gehen.” In unserer Gesellschaft wird das Sterben oft tabuisiert. “Heute wird nicht gestorben!” Das hören wir oft, selbst von Krankenschwestern und Pflegekräften in Altenheimen. Es ist, als ob alte oder kranke Menschen nicht sterben dürfen. Solche Dinge hört man nur in Fortbildungen oder in Gesprächen in Gruppen, in denen man sich austauscht.
„Sterben ist die Chance, sich bei Freunden und Familie zu bedanken und in Frieden zu gehen.”
Cicely Saunders, Ärztin und Pionierin der Hospizbewegung
Bei uns darf auch am Sterbebett gelacht werden. Man mag es manchmal nicht glauben, aber es bringt eine gewisse Leichtigkeit für den Sterbenden, wenn wir ihm so begegnen. Wir sollten nicht sagen, “du ärmster oder du arme”. Das ist auch ein Thema, insbesondere wenn es um Angehörige geht, die ja mitleiden. Eine Referentin hat uns einmal geraten, nie mitzuleiden.
Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, nicht mehr “mein Beileid” oder “Mitleid” zu sagen, sondern immer “mein Mitgefühl”. Denn wenn ich “Leid” oder “Mitleid” sage, impliziert dies das Wort “Leid”, das für mich negativ behaftet ist. Man leidet mit, und das sollte man nicht tun. Wenn ich mitleide, kann ich nicht ich selbst und nicht für den anderen da sein. Aber wenn ich mitfühle, ist das etwas ganz Anderes. Man merkt den Unterschied schon an den Wörtern “Leid” und “Fühle”.
Das Gespräch mit Anita Brust verdeutlicht, wie wichtig Sterbebegleitung ist und wie sie dazu beitragen kann, den letzten Lebensabschnitt friedlich und würdevoll zu gestalten. Ihr Engagement und ihre Empathie für Menschen am Lebensende und ihre Angehörigen ermöglichen einen menschenwürdigen Abschied für diejenigen, die sie begleitet.
Cicely Saunders – Pionierin der Hospizbewegung
Cicely Saunders war eine britische Krankenschwester, Ärztin und Pionierin der Hospizbewegung. Sie wurde 1918 geboren und verstarb 2005. Saunders lebenslange Hingabe an die Sterbebegleitung und die Gründung des ersten modernen Hospizes hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf die Art und Weise, wie wir heute Sterbende und ihre Familien betreuen.
Ihre Motivation für ihre Arbeit in der Hospizbewegung war persönlicher und beruflicher Natur. Als Krankenschwester begegnete sie oft schwerkranken Menschen und erlebte aus erster Hand die Bedürfnisse und Leiden von Sterbenden. Dies weckte ihr Interesse an einer besseren Versorgung dieser Patienten. Später wurde sie zur Ärztin ausgebildet, was ihr einen tieferen Einblick in die medizinischen Aspekte der Sterbebegleitung ermöglichte.
Saunders Ansatz in der Hospizbewegung war geprägt von ihrem Glauben an die Würde und den Wert des menschlichen Lebens bis zum Schluss. Sie verstand den Sterbeprozess als einen wichtigen Teil des menschlichen Lebens und betonte, dass Sterbende die bestmögliche physische, psychische, soziale und spirituelle Unterstützung benötigen.
Ihre Arbeit führte zur Gründung des weltweit ersten modernen Hospizes, des St. Christopher’s Hospice, in London im Jahr 1967. Dieses Hospiz war wegweisend, da es einen ganzheitlichen Ansatz zur Sterbebegleitung verfolgte, bei dem die Schmerzlinderung, die psychische Betreuung und die spirituelle Begleitung im Mittelpunkt standen.
Das St. Christopher’s Hospice diente als Modell für die Entwicklung der Hospizbewegung auf der ganzen Welt. Cicely Saunders erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen für ihr Lebenswerk und verstarb im Juli 2005 im von ihr gegründeten „St Christopher’s Hospice“ in London.
Cicely Saunders schuf und etablierte die Ausbildung von speziell geschulten Palliativpflegekräften und Ärzten, die sich auf die Versorgung von Sterbenden konzentrieren. Sie betonte die Bedeutung von Schmerzkontrolle, Kommunikation und emotionaler Unterstützung für Sterbende und ihre Familien. Ihre Arbeit hat dazu beigetragen, die Sterbebegleitung zu humanisieren und das Bewusstsein für die Bedürfnisse der Sterbenden zu schärfen.
Die Hospizbewegung, die Cicely Saunders maßgeblich geprägt hat, hat sich seit ihrer Gründung weiterentwickelt und ist heute weltweit anerkannt. Ihr Engagement und ihre Arbeit haben dazu beigetragen, Sterbenden ein würdevolles, schmerzfreies und unterstützendes Umfeld zu bieten, in dem sie in Frieden und mit so viel Komfort wie möglich die letzte Phase ihres Lebens verbringen können.
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