Rasselnd zerschneidet das Motorengeräusch einer elektrischen Heckenschere die morgendliche Ruhe über den Feldern am Ortsrand von Waakirchen, einer 6000-Seelen-Gemeinde im bayerischen Oberland nahe am Tegernsee.
Neben dem gepflasterten Eingang zum Hofladen stutzt Fritz von Stein (43) einen hüfthohen Laubstrauch zu einer symmetrischen Kugel. Es ist kurz vor neun Uhr. „Gleich kommen die ersten Kunden. Bis dahin muss alles fertig sein“, stellt er fest und verschwindet mit Säge und Rechen hinter dem Haus.
Ein wolkenfreier Himmel und leises Flirren in der Luft kündigen einen heißen Spätsommertag an. Drinnen im Hofladen ist es angenehm kühl. Hier sortiert Hannah von Stein (41), in der linken Hand eine Bestellliste, Gemüse und Früchte in grüne Plastikkörbe.
Nach Ladenschluss wird sie die Kisten mit Biogemüse an ihre Abonnenten ausliefern. Kohl, Rüben, Kartoffeln, Lauch, Bohnen, Salate – im Morgengrauen auf den Feldern vor ihrer Haustür geerntet – wandern nach und nach in die rechteckigen Tragen.
Noch vor Kurzem hätten sich die beiden nicht vorstellen können, dass ihr Alltag für die nächsten 25 Jahre so aussehen würde, noch dazu an einem Ort fernab von ihrem Zuhause.
Als professionelle Landwirte haben sie sich nie gesehen
Anfang 2022 waren Hannah und Fritz mit ihren drei Kindern Frida (7), Henry (8), Florine (12), Hannahs Tochter Helena (20) aus einer früheren Beziehung und Familienhund Bo von einem Bauernhof im Allgäu in eine Mietwohnung gezogen.
Der Umzug damals kam nicht aus freien Stücken. Der kleine Hof, auf dem sie zwölf Jahre als Selbstversorger zur Miete gewohnt hatten, war ihnen wegen Eigenbedarf Ende 2021 gekündigt worden. Mit einem Pacht- anstelle des Mietvertrags wäre ihnen die Kündigung wahrscheinlich erspart geblieben. Pachtverträge für Landwirtschaftsbetriebe werden auf Jahrzehnte geschlossen, um den Pächtern eine sichere Perspektive zu gewährleisten.
Als professionelle Landwirte hatten sich Hannah und Fritz nie gesehen. Obschon Hannah, gelernte Hutmacherin, eine zweite Ausbildung zur Bio-Landwirtin absolviert hatte und die Familie bis zu dem Umzug einen Teil ihres Lebensunterhaltes aus dem eigenen Garten sowie einer kleinen Viehwirtschaft mit Schafen und Hühnern bestritt.
Nach dem Umzug ging es für beide erst mal zurück in ihre ursprünglichen Berufe: Hannah verkaufte als Hutmacherin Mützen auf Märkten und Fritz arbeitete wieder als Sozialarbeiter.
Rezeptvorschläge und Zubereitungstipps gibt’s beim Einkauf im Hofladen dazu
Im Hofladen des Gemüsegartens Waakirchen öffnet sich an diesem Morgen die Türe aus hellem Holz und Fensterglas. Die erste Kundin betritt den mit Terrakotta gefliesten Verkaufsraum. Die Uhr an der verputzen Wand zeigt kurz nach neun. Drei arbeitsreiche Stunden liegen bereits hinter Hannah und Fritz.
Bianca, eine Stammkundin, kommt aus dem Nachbarort Greiling zum Einkaufen. Vom Verkaufstresen aus ruft ihr Hannah mit einem Lächeln ein „Guten Morgen!“ entgegen. Während sie eintritt, entspinnt sich eine lebhafte Plauderei zwischen den Frauen. Minuten vergehen, in denen sich die beiden ohne Eile über das persönliche Befinden und aktuelle Neuigkeiten austauschen.
Dann beginnt Bianca von ihrer Einkaufsliste abzulesen, was später zu Hause auf den Tisch kommen soll. Ein Problem taucht auf: Der gewünschte Wirsing ist noch nicht reif, aber Hannah weiß Abhilfe: „Wir haben fantastische Steckrüben da. Heute Morgen vom Feld geholt. Nimm die!“ Wie schon Vorgängerin Eva duzt sie ihre Kundinnen.
„Ich kann darauf vertrauen, dass die Ware hier vor Ort und ohne Unmengen von Pestiziden angebaut wurde. Das ist mir wichtig.“
Bianca aus Greiling
Als Bianca zögert, denn sie hat noch nie Steckrüben zubereitet, hat Hannah umgehend ein Rezept parat. Problem gelöst, Bianca ist zufrieden. „Deshalb komme ich hierher“, sagt sie. „Ich mag den lockeren, persönlichen Kontakt und kann darauf vertrauen, dass die Ware vor Ort und ohne Pestizide angebaut wurde. Das ist mir wichtig.“
Im Hofladen: Keine Ware aus Übersee
Im Hofladen herrscht nun geschäftiger Betrieb. Hannah und Fritz stehen hinter dem Tresen und bedienen die Kunden. Es gibt keine Selbstbedienung. Beide tragen Stück für Stück die Einkaufswünsche ihrer Kundschaft zusammen, wiegen ab, helfen beim Einpacken.
Über allem liegt eine heitere, herzliche Stimmung. Die intensiven Gespräche reißen nicht ab: Eine Kundin befragt Fritz zu Anbautipps für die eigenen Tomaten zu Hause, eine andere fachsimpelt mit ihm über Sonnenbrand auf Gemüse.
Ein älterer Herr beklagt die Qualität der Zitronen. Die seien zuletzt „gar nicht gut“ gewesen, kaum Saft hätte er aus ihnen herauspressen können, murrt er. Hannah blickt auf den Korb, in dem sie die Zitronen zu einem kleinen Hügel aufgetürmt hat. Sie sind klein und grün.
„Das ist die Qualität, die ich derzeit in Europa bekomme. Diese kommen aus Italien“, erklärt sie. Und ergänzt nachdrücklich: „Ich kaufe keine Ware aus Übersee!“ Die Worte scheinen zu wirken, der Kunde setzt seinen Einkauf fort. Am Ende kauft er sogar die Zitronen.
„Ihr macht das! Ihr schafft das!“
Eva Vogel, ehem. Betreiberin von Evas Paradiesgarten
Die Einrichtung im Laden ist fast unverändert. Ein frischer Anstrich in einem warmen Gelbton, einige neue Regale: Eva Vogel, die Vorbesitzerin, hatte nicht viel mitgenommen, als sie im Februar 2023 den Hof übergab. Dazu gehören zwei Hektar Ackerland und das Wohnhaus samt Hofladen im Erdgeschoss. Damals kannten sich Vogel und die von Steins gerade zwei Monate. Zuvor waren sie sich nie begegnet, obwohl es mehrere Verbindungen über die Familien und gemeinsame Bekannte gab.
Über diese kam auch der Kontakt zustande. Eva Vogel hatte schon länger nach Pächtern für ihren Gemüsehof „Evas Paradiesgarten“ in Waakirchen gesucht. Ende 2022 traf sie die von Steins zum ersten Mal. Daraufhin schlug sie kurzerhand das Angebot eines anderen Interessenten aus und entschied sich für Fritz und Hannah. Sie ermunterte die beiden, den Hof für die nächsten 25 Jahre als Pächter zu übernehmen: „Ihr macht das! Ihr schafft das!“
Kunden wollen Biogemüse ohne Verpackung
Das Sortiment im Laden haben Hannah von Eva Vogel übernommen. Dazu zählt auch die Zusammenarbeit mit Lieferanten für Produkte, die sie selbst nicht auf dem Hof anbauen können. „Die meisten Menschen haben weder Zeit noch Lust, ihren täglichen Bedarf in drei verschiedenen Läden zusammenzukaufen“, weiß Hannah.
Ihre Ware stammt überwiegend aus der Region, nur wenig aus dem europäischen Ausland: Ein überschaubares Sortiment für Haushalt und Küche, in Bio-Qualität und aus umweltfreundlichen Roh- und Verpackungsstoffen.
Manche Kunden wie Julia aus Piesenkam (links im Bild) besuchen den Hofladen, weil sie Wert auf frische Ware ganz ohne Verpackung legen. Einige fragen auch nach abgelaufener Frischware, die sie zu einem geringen Preis erhalten, um sie vor dem Abfall zu retten und zu Hause einzuwecken.
Was übrig bleibt, verwendet die Familie selbst. So landen kaum Lebensmittel im Müll. Hannah, Fritz und viele ihrer Kunden scheint der Wunsch nach einem nachhaltigen Leben zu verbinden. Das schwingt in den Gesprächen in dem kleinen Ladenlokal immer wieder mit.
Ein Wagnis, viele Herausforderungen
Im Dezember 2021 hatten Hannah und Fritz nach kurzem Nachdenken entschieden, ihr Leben im Allgäu hinter sich zu lassen. Der Umzug mit der Familie ins Tegernseer Umland nach Waakirchen ging schnell. Dabei war beiden die Größe der Herausforderung und mögliche Risiken durchaus bewusst.
Bisher hatte die Familie von Stein Gemüse hauptsächlich für den eigenen Bedarf angebaut. Nun übernahm sie den großen Hof mit Kundinnen und Lieferanten. Richtlinien für biologischen Gemüseanbau oder betriebswirtschaftliche Abläufe galt es zu lernen und umzusetzen.
„Ich habe Respekt davor, das groß anzupacken, die richtigen Leute dafür zu suchen – und dabei nicht den Mut zu verlieren.“
Hannah von Stein
Hannah und Fritz sahen hier die Chance, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und durch den Hof ihren Lebensunterhalt zu sichern.
Sie haben ihre Entscheidung keinen Tag bereut. Seit Februar sind sie Pächter, fühlen sich manchmal aber noch wie Gäste im eigenen Haus. „Wir müssen uns erst noch klarer werden, wo wir mit dem Hof hinwollen“, sagt Hannah. Bis dahin führen sie und Fritz das Konzept ihrer Vorgängerin fort.
„Es ist wie in Schuhen anderer Leute zu gehen“, erklärt Hannah. „Es braucht seine Zeit, bis ich sagen kann: Jetzt ist es das, was wir d’raus gemacht haben.“ Sie sieht großes Potenzial im Hof und in der Region. Zweifel kommen auf, dann, wenn es für einen Moment ruhig ist und sie Zeit zum Nachdenken findet.
Hannahs Blick wandert zur Pergola, unter der die Familie am Nachmittag bei einer Brotzeit sitzt. Sie sucht nach den passenden Worten: „Ich frage mich dann, schaffe ich das? Betriebswirtschaftlich – und die vielen neuen Themenfelder, in die ich mich einarbeiten muss?“ Ihr Fazit: „Ich habe Respekt davor, das groß anzupacken, die richtigen Leute dafür zu suchen – und dabei nicht den Mut zu verlieren.“
Aber da sind auch die vielen schönen Momente. Zum Beispiel, wenn Hannah und Fritz am frühen Morgen direkt nach dem Aufstehen über die Felder laufen. „Ich stehe morgens gerne auf und freue mich daran, über das Land zu gehen und zu schauen, was der Garten macht“, schwärmt Fritz. „Das ist sauschön!“ Seine Augen strahlen wie zur Bestätigung.
„Wenn wir das Gemüse anbauen, zusammen in der Erde sitzen und kistenweise Zucchini von den Feldern holen oder Tomaten aus dem Gewächshaus, die so richtig lecker schmecken – das macht Spaß. Und überhaupt, dass wir die Entscheidung herzukommen getroffen haben – das alles fühlt sich dann schon auch ein Stück weit nach Erfolg an“, fügt Hannah hinzu.
Ihr Gemüse an Supermärkte vermarkten wollen sie vorerst nicht
Hannah und Fritz haben sich für die Bio-Zertifizierung nach den EU-Richtlinien entschieden. Eine Demeter-Zertifizierung zu beantragen, wie Eva sie besaß, hätte Jahre gedauert. Fritz steht auf dem Standpunkt, dass er schon aus persönlicher Überzeugung nichts tun würde, was im biologischen Gemüseanbau verboten sei: „Unsere Kunden sind jederzeit eingeladen, sich im Gemüsegarten selbst ein Bild von unserer Arbeit zu machen.“
„Ich finde es spannend, Orte zu schaffen, die gut sind.“
Fritz von Stein
Auch anderen Anbauverbänden wie etwa Bioland oder Naturland wollen sie sich zurzeit nicht anschließen. Mit den Gütesiegeln der Verbände ließe sich zwar Bio-Ware breiter vermarkten, aber, stellt Fritz fest: „Das ist gar nicht unser Ziel. Vermarktung an Supermärkte interessiert uns überhaupt nicht.“ – Fritz und Hannah haben andere Ziele.
„Wir machen das, weil die Menschen zu uns kommen. Ohne sie ginge es nicht“, erklärt Hannah. „Die Kunden wiederum bekommen Gemüse von uns, das einen ganz anderen Gehalt hat. Sie wissen, wer es angebaut, wer es gepflegt, wer es geerntet und wer es gewaschen hat.”
Wesentlich sind die Beziehungen, die dabei entstehen. Dahinter treten manche Schwierigkeiten zurück.“ Fritz bringt es für sich auf den Punkt: „Ich finde es spannend, Orte zu schaffen, die gut sind.“
Das ist Gemüse plus
Sinnstiftend ist für beide, wenn sich die Dinge miteinander „verweben“, wie sie sagen. Der Kreislauf auf dem Hof, aus Schafen, die Mist hinterlassen, aus dem wieder neues Gemüse wächst: Das ergibt ein enges Geflecht. Je verwobener das sei, desto sinnvoller fühle sich das an.
Und das gelte genauso nach außen, meint Hannah. „Je herzlicher die Beziehung zu den Leuten ist, die hierherkommen, desto mehr Freude macht es. Und je mehr von dieser Qualität vorhanden ist, die mich fest an das Ganze glauben lässt, desto mehr Verbindungspunkte entstehen auch in die Umgebung hinein.“
„Das ist viel mehr als nur Gemüse anbauen“, sagt Fritz. „Das ist Gemüse plus!“, antwortet Hannah und lacht vergnügt.
Der Winter ist nicht mehr weit. Die Arbeit auf den Feldern wird weniger. Dennoch werden die beiden kaum pausieren können. Auf sie warten Projekte, für die während der Sommermonate keine Zeit geblieben ist: Das Marketingkonzept ist fällig, betriebliche Abläufe gehören auf den Prüfstand. Und dabei werden sie weiter Verbindungen flechten.
Der Gemüsegarten Waakirchen
Hoffläche: 2.000 m2
Anbaufläche: 20.000 m2
Anbau: ganzjährig regionale und saisonale Gemüsesorten und Salate (alte Sorten)