Blind Kunst „sehen“ – ein Selbsttest im Ägyptischen Museum München – Teil 2
„Wenn die Augen verbunden sind, sind die anderen Sinne viel schärfer!“, so Roxane Bicker, Ägyptologin und Museumspädagogin am Ägyptischen Museum München. Sie lässt sich auf meinen Selbsttest ein und führt mich durch den Raum „Ägypten (er)fassen“. Begreifen ist das Motto dieses Raums. Noch stark verunsichert im ersten Teil von „Blind Kunst sehen“ auf KULTUR – MUSEUM – TALK, fühle ich mich allmählich ein: Intensiv und anders als gewohnt erlebe ich Kunst. Eine Bereicherung! Warum?
Fünf Statuentypen mit verbundenen Augen „sehen“
Einerseits sind die Sinne nicht-sehend schärfer, andererseits ist es schwierig, das Ertastete mit meinem Wissen zusammenzubringen. Das ist das grundsätzliche Problem. Ich sah die Werke, bin aber völlig blind, wenn ich sie erfühlen muss. Das unterscheidet mich von Menschen mit Sehbehinderung: Ihre Sinne sind allumfassend geschärft. Bei mir überlagert der Sehsinn meine Wahrnehmung. Täuscht mich dieser? Falsche Frage, besser: Wie nehme ich Kunst in all ihren Facetten wahr? Das Erfühlte bringe ich mit Materialien und Formen zusammen. Daraus konkret etwas abzuleiten, fällt mir zunächst schwer. Ich muss mir ausgehend von meinem Tastsinn etwas erschließen. Nachdenken und reflektieren, dann erst kategorisieren. Vorurteilslos und frei vom Qualitätsbegriff erfahren – darum geht es, egal ob blind oder sehend.
Roxane Bicker führt mich als nächstes vor eine von fünf Statuen. „Da stehst du jetzt vorne vor. Du darfst dir das Ganze erst einmal anschauen.“ Schon witzig, die Ansprache, denn tatsächlich stehe ich fühlend mit verbundenen Augen davor. Die Kunstvermittlerin klärt mich auf – es gibt nur fünf Statuentypen in der altägyptischen Kunst:
- Kniestatuen – die dargestellte Person kniet
- Schreiberfigur –die Person sitzt im Schneidersitz
- Würfelfigur – die Person sitzt auf dem Allerwertesten mit angezogenen Beinen
- Stand-Schreitfigur – die Person steht, aber ein Bein ist nach vorne gesetzt
- Sitzfigur – die Person sitzt in der gängigen Sitzposition
Im Alten Ägypten fehlt die Varianz an Statuentypen, die wir aus dem alten Griechenland kennen. Spannend ist, wie ich übers Tasten eine Figur zuordne, aber nur dank meiner Begleitung. Ich stehe noch immer vor der Figur, die ich mir „anschauen“ soll. „Kannst du seine Hände ertasten? Wie sind die denn?“ – „Sie sind geballt. Hat er da etwas drin?“ – „Ja, richtig. Er hält einen Stab. Der ist allerdings nicht ganz ausgearbeitet. Das war bei einer Steinfigur nicht möglich. Du fühlst einen kleinen Knubbel, der dort herausragt. Aber den alten Ägyptern war klar, dass es ein langer Stab ist. Es ist nämlich das Zepter eines Beamten. Es zeigt seinen Stand an. Der Dargestellte hieß Ipi. Er war Flötenspieler am Hofe des Königs.“
Schritt für Schritt erschließe ich mir mit Roxane Bickers Ausführungen die Skulptur. Ich mag ihre ruhige Stimme, die mir präzise erzählt, was ich mit den Händen sehe und was das Gefühlte bedeutet. Die Begeisterung für ihr Fach schwappt auf mich über. Bewusst widme ich mich dem Objekt und erlebe die Kunst anders, intensiver.
Vom Steinblock zur Skulptur
Wir gehen auf die gegenüberliegende Seite des Raumes. „Was wir hier haben ist die Entwicklung einer ägyptischen Statue, also der Herstellungsprozess in fünf verschiedenen Varianten“, so Roxane Bicker. Zuerst lässt sie mich einen Steinblock ertasten. Ich spüre Ritzungen, Gitternetzlinien. Innerhalb dieses Gitters sind die Umrisse der Statue eingezeichnet – ein Erstentwurf. Sie werden in einem zweiten Schritt abgearbeitet.
Ich darf mich von selbst weiterbewegen, am Tisch entlang tasten, bis zum Beschriftungsfeld der nächsten Statue. „An diesem Werk kannst du gucken, was daraus wird. Du hast hinten einen Brückenpfeiler und unten eine Basisplatte. Das ist ganz typisch für ägyptische Statuen. Was wird das einmal werden?“ – „Eine sitzende Person?“ – „Ja, genau, eine Sitzfigur. Wir haben quasi den Hocker ausgearbeitet, haben die Füße, den Ansatz der Beine, einen ganz groben Oberkörper und oben drauf einen kleinen Kopf“. Erneut ertaste ich ein Gitternetz mit Entwurfszeichnungen. Sie werden Schritt für Schritt abgearbeitet bis die finale Statue vor mir steht.
Die originale Figur steht im Ägyptischen Museum. Dargestellt ist eine Tochter des Cheops, dem Erbauer der großen Pyramide. Sie datiert ins alte Reich um 4.500 v. Chr.
Kunst mit allen Sinnen erfahren – der Blindenkoffer
Der Blindenkoffer ist gefüllt mit verschiedenen, kleinen Objekten, wie Dienerfiguren als Grabbeilagen, Tierdarstellungen, Straußenleder für Königskronen, Scherben und kleinen Gefäßen. Das Museum setzt ihn auch in normale Führungen und für Schulklassen ein. „Sie sind dankbar, wenn sie zwischendurch Abwechslung haben, wenn sie dann mal Sachen in die Hand bekommen.“ Diese Objekte faszinieren, vor allem weil sich neben Repliken Originale im Blindenkoffer befinden. Ehrfürchtig erfühle ich ein kleines Mini-Schälchen aus dem Alten Reich. Es ist 4.500 Jahre alt!
Tatsächlich war das Schälchen ein Massenprodukt und gehörte zur Versorgung des Verstorbenen. „In der Zeit galt lieber Masse als Klasse, das heißt, man hat Miniatur-Gefäße hergestellt und zu Tausenden den Gräbern beigefügt. Sie sind nicht besonders aufwändig produziert.“ Die Kunstvermittlerin geht sehr entspannt mit Verlusten bei Führungen im Museum um. „Die Repliken fallen nun mal herunter und gehen kaputt. Aber das gehört einfach dazu. Die meisten fallen in der Tat bei den Kindern herunter, während die blinden Personen ganz vorsichtig damit umgehen.“ Das Museum besitzt viele dieser Mini-Schälchen.
Im Blindenkoffer findet sich noch etwas anderes. Das Museum möchte, dass seine Besucher Ägypten mit allen Sinnen erfahren, deshalb hält mir Roxane Bicker zwei Fläschchen unter die Nase. Sie sind mit Weihrauch und Lotusduft gefüllt. Mir fällt es schwer, die Düfte zu benennen. „Lotusblume findet man in ganz vielen Darstellungen, Kinder sagen oft, dass der Duft nach Waschmittel riecht.“
Damit endet mein Selbsttest „Blind Kunst sehen“. Ich bin ermattet, obwohl Roxane Bicker die reguläre Führung für Sehbehinderte und Blinde für mich kürzte. „Es braucht einfach wahnsinnig viel Zeit bis man mit drei, vier Personen alles hier ertastet hat. Zudem erfordert es viel Konzentration, um dran zu bleiben und das Ganze mit allen Sinnen zu erfassen.“ Der Multi-Media-Guide hilft dabei, „Ägypten (er)fassen“ auch ohne Führer zu begreifen: Hören und tasten ergeben das Gesamtbild der ägyptischen Kunst.
Das Fazit zu meinem Selbsttest
Ich genieße es, die Kunst zu berühren, sie anders zu „sehen“. Unbedarft. Gerade das beschwingt mich: Ich erfühle glatte und raue Flächen, geriefelte Strukturen, geritzte Linien, eckige und runde Formen, erhaben oder vertieft. Erst dann präzisiert die Museumspädagogin. Sie greift nichts vorweg. Wo gibt es das schon, Kunst haptisch zu erspüren? Gar Originale anzufassen oder Düfte bewusst zu erschnuppern? Der Raum „Ägypten (er)fassen“ ist didaktisch hervorragend aufbereitet. Blind Kunst zu sehen strengte mich an und bereicherte mich. Sehbehinderte und Blinde erfassen ihre Umwelt mit allen Sinnen. Der bewusste Umgang mit diesen täte uns allen sehr gut.
Freiraum bedeutet mir, diesen Selbsttest blind Kunst „sehen“ einzugehen und eine andere Perspektive auf Kunst einzunehmen. Dafür danke ich insbesondere Roxane Bicker vom Ägyptischen Museum, die mich darin untertstützte.
->Der erste Teil dieser Reportage erschien in: „Blind Kunst sehen – ein Selbsttest im Ägyptischen Museum München“ auf KULTUR – MUSEUM -TALK.
Infos zum Ägyptischen Museum München
Ägyptisches Museum München
Gabelsbergerstr. 35
80333 München
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Öffnungszeiten: Montags geschlossen (außer Oster- und Pfingstmontag) / Di 10 – 20 Uhr / Mi – So 10 – 18 Uhr (achte auf die Schließtage!)
Eintrittspreise: Erw 7,- / Ermäßigt 5,- / Kinder bis 18 J. freier Eintritt
Die Angebote für Barrierefreiheit sind sehr umfänglich.