Der Mantel im Flur
Ein Gespräch über Freiraum beim Trauern.
Er wartet auf jeden von uns, er ist gewiss – der Tod. Wenn er eintritt, hinterlässt er Trauer und Leid. Sich von einem lieben Menschen zu verabschieden, schmerzt. Sarah Benz begleitet Menschen bei diesem Prozess. Mit der Trauerbegleiterin haben wir darüber gesprochen, welche Rolle Freiraum beim Trauern und Bestatten spielt. Im Interview erklärt sie, wie man sich diesen Freiraum verschafft, welche Möglichkeiten es gibt, sich von Verstorbenen zu verabschieden und ihnen doch einen Platz im Leben zu geben.
Was bedeutet für Sie Freiraum beim Trauern?
Für mich bedeutet Freiraum die Freiheit, sich ausdrücken zu dürfen, egal wie dieser Ausdruck aussieht. Ich erkläre das immer am Beispiel von dem Mantel im Flur. Ein Mann ist gestorben und die Frau hatte noch lange seinen Mantel im Flur hängen. Das fanden alle beunruhigend. In solchen Situationen erkläre ich, dass es keinen Zeitraum gibt, wie lange der Mantel da hängen darf.
Nehmen wir an, dass es zum Leben der Frau gehört, dass sie nach Hause kommt und der Mantel sie an ihren Mann erinnert. Solange sie weiterleben und sich entfalten kann, kann der Mantel dort für immer hängen. Wenn dieser Mantel aber den gesamten Lebensraum der Frau einnimmt, sollte sie darüber nachdenken, ob es ihr guttut, dass der Mantel dort hängt. Aber das kann von außen niemand sagen, das kann nur die Frau entscheiden.
Manche Leute besuchen die Orte, die für sie und den Verstorbenen wichtig waren. Andere Leute kochen die Rezepte der Verstorbenen. Wieder andere tragen die Kleidung ihrer Verstorbenen. Trauern ist so unterschiedlich, wie die Menschen waren, die gestorben sind, und wie die Menschen sind, die zurückbleiben.
Warum ist Freiraum beim Trauern so wichtig?
Begreifen zu dürfen, dass jemand tot ist, finde ich sehr hilfreich. Den Verlust mit allen Sinnen zu erfahren, kann helfen. Mit den Händen spüren, dass der andere kalt wird. Sehen, dass er weiß wird. Erfahren, dass er nicht antwortet, wenn man ihn etwas fragt. Wirklich zu begreifen, was es bedeutet, wenn jemand tot ist. Wenn man das erfahren durfte, steigt man anders in den Trauerprozess ein. Außerdem hilft es, Dinge zu tun, da man so Selbstwirksamkeit erfährt. Das ist wichtig, weil man dadurch die eigene Kraft spürt.
Die Zeit zwischen Tod und Beerdigung ist eine ganz besondere Zeit. In dem Moment, in dem jemand stirbt, bleibt die Welt stehen und alles Andere versinkt in Bedeutungslosigkeit. Das hat eine besondere Qualität, gerade wenn man diese Zeit gestalten kann.
Was genau kann man in dieser Zeit gestalten?
Da gibt es viele Möglichkeiten. Man kann den Verstorbenen anziehen, ihn aufbahren, noch bei ihm sitzen, ihn streicheln. Es ist auch möglich, einen Verstorbenen aus dem Krankenhaus mit nach Hause zu nehmen und noch einen Tag zu Hause Abschied zu nehmen. Da können zum Beispiel auch Freunde kommen und sich verabschieden.
Es ist schön, wenn die Trauerfeier von mehreren Parteien gestaltet wird. So sieht man, was dem verstorbenen Menschen wichtig war. Freunde, Eltern, Partner, Kinder – jeder, der möchte, kann etwas beitragen.
Auf welche Grenzen kann man dabei stoßen?
Es gibt Einschränkungen durch Krankenhäuser oder Bestattungsgesetze. Allerdings schöpfen wir häufig nicht einmal das aus, was innerhalb dieser Bestimmungen möglich ist. Viele Leute wissen zum Beispiel nicht, dass man einen toten Menschen aus dem Krankenhaus wieder nach Hause holen kann, um sich in Ruhe zu verabschieden. Im Übrigen wissen das auch viele Krankenhausangestellte nicht.
Noch schwieriger ist es, wenn jemand plötzlich stirbt. Dann wird der Mensch meistens beschlagnahmt, weil eventuell nicht klar ist, woran er gestorben ist. Dann hat man für den Abschied, den man sonst in einem oder mehreren Tagen zelebrieren könnte, sehr wenig Zeit. Manchmal nur zehn Minuten, manchmal nur eine oder gar keine. Das ist meine Hauptmotivation, Notfallseelsorge zu leisten, um diese Zeit freizuschaufeln und den Menschen einen Abschied möglich zu machen.
Denn ob Eltern ihr totes Kind nochmal in die Arme nehmen können, bevor es abgeholt wird oder nicht, ist ein großer Unterschied für den Trauerprozess und für das Begreifen – selbst, wenn es nur eine Minute ist.
Was kann ich tun, um jemanden gut beim Trauern zu begleiten?
Ich finde es wichtig, dem anderen zu vermitteln, dass er okay ist, wie er ist. Ihm zu sagen, dass es völlig in Ordnung ist, was er gerade braucht. Das Wichtigste ist, da zu sein. Man muss keine klugen Sachen sagen, meistens gibt es die ja auch nicht. Wenn ich einen Einsatz als Notfallseelsorgerin habe und da liegt ein totes Kind auf dem Boden, gibt es überhaupt nichts, was ich sagen kann, um es besser zu machen. Aber wenn ich den Hinterbliebenen vermittle, dass ich da bin und sie nicht alleine in dieser schwierigen, schrecklichen Situation sind, ist das viel wert.
Dasein und Aushalten hört sich nach wenig an, aber sich selbst leer zu machen und für die anderen da zu sein, ist sehr viel.
Auch später in der Trauer hilft es vielen Menschen wenn sie spüren, dass sie nicht allein sind. Manchmal reicht es schon, etwas für denjenigen zu kochen oder einen Spaziergang anzubieten. Man kann auch fragen: „Was brauchst du jetzt gerade?“
Ich glaube, das Schlimmste für Trauernde ist, wenn sie von ihrem Umfeld gemieden werden. Manche Menschen wechseln aus Angst, etwas Falsches zu sagen, die Straßenseite oder rufen aus Verlegenheit nicht mehr an. Dann fühlen sich Trauernde zusätzlich zu ihrem erlittenen Verlust verlassen.
Wie kann man Verstorbenen einen Platz im Leben geben?
Gemeinsam mit zwei Kollegen habe ich 2015 das Kurzfilmprojekt sarggeschichten.de gestartet. In kurzen Filmen werden die Themen Sterben, Tod und Trauer behandelt. In einem der Filme kommt eine junge Frau vor, die ein Kissen mit dem Foto ihres Babys im Arm hält. Sie sagt: „Mein Mann und ich haben es so vermisst, unsere Tochter im Arm zu halten, deshalb haben wir uns dieses Kissen gemacht.“
Die beiden haben heute zwei Söhne. Das Kissen gibt es immer noch. Es liegt auf dem Sofa. Sie kuscheln auch noch damit, aber es ist nicht mehr so emotionsgeladen wie in dem Moment, als ihr Kind starb. Im Kinderzimmer hängt ein Bild von jedem Kind. Wenn die beiden Jungs abends ins Bett gehen, wird der Schwester „Gute Nacht“ gesagt. Das ist ein Ritual. Es ist nicht so, dass das tote Kind einen übergroßen Platz einnimmt – sie ist nur einfach noch da.
Wie wichtig ist das für Kinder?
Es ist faszinierend: Kinder, denen nicht gesagt wird, dass da noch ein Kind war, spüren das trotzdem. Das kann sehr schwierig werden, denn die Familiendynamik bleibt. Ich kenne Fälle von Familien, die den Kindern nicht gesagt haben, dass es vor ihnen noch ein Kind gab. Und plötzlich haben die Geschwisterkinder angefangen, dieses tote Kind zu malen. Nur weil ein Kind tot ist, fällt es nicht aus dem Familiensystem raus. Deshalb ist es wichtig innerhalb der Familie darüber zu reden.
Die 38-Jährige ist Trauerbegleiterin, Notfallseelsorgerin und Musikerin. Sarah Benz ist es wichtig, dass der Umgang mit den Themen Sterben, Tod und Trauer selbstverständlicher wird, deshalb rief die Berlinerin 2015 das Kurzfilmprojekt sarggeschichten.de ins Leben. Gemeinsam mit dem Bestatter Jan Möllers produziert sie Kurzfilme zu den Themen Sterben, Tod und Trauer. In den Videos geht es um Fragen wie: „Was ist ein Hospiz?“, „Was kann ich sagen, wenn jemand gestorben ist?“ oder „Wie gibt man Verstorbenen einen Platz im Leben?“. Sarggeschichten.de wurde bis Ende 2017 von der Deutschen Palliativstiftung gefördert und soll Anregungen geben, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Momentan sucht das Team nach Spendern und Sponsoren, um das Projekt weiterführen zu können. Die Filme laufen auf der Website sarggeschichten.de sowie auf Youtube, denn Sarah Benz will Menschen Mut machen ihre Prozesse selbst in die Hand zu nehmen und zu gestalten, was ihnen wichtig ist.
Sarah Benz
Die Dipl. Sozialpädagogin leitet ein Trauercafé in Berlin, in dem sich Trauernde austauschen können.
Zudem gibt sie Seminare zu den Themen Trauer, Abschiednahme und Kindertrauer. Als Musikerin begleitet sie Trauerfeiern auch musikalisch.
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