Freiraum für die Füße – maßgeschusterte orthopädische Schuhe
Die Schuhgröße des Innenministers der Vereinigten Arabischen Emirate
Es fühlt sich wirklich gut an. Prickelnd, obwohl die winzigen Stifte unter meinen Fußsohlen kalt sind, sogar durch die Socken. Diese Kombination habe ich so noch nie gespürt – stimulierte Fußreflexzonen, nicht warm, sondern kühl. „Manche unserer Kunden fahren total darauf ab.“ Hans Goll (49) lacht sein herzliches, lautes Lachen. „Die kriegen gar nicht genug davon.“ Der Orthopädie-Schuhmachermeister fasst mir an die Schultern und tastet mit seinen Händen an meiner Wirbelsäule entlang. Leichter Knick-Senk-Fuß, so seine Diagnose.
Stahlstifte im Digitizer analysieren den Fuß
Die hat er nicht nur mit den Fingern und Augen gestellt, sondern in erster Linie mit dem Digitizer, auf dem ich gerade noch stand. So heißt das Analysegerät mit den winzigen Stahlstiften in einer Stahlplatte. Hans Goll schwört auf seinen Digitizer, der auch berechnet, wie weit die Haut nachgibt, wenn Druck auf den Fuß kommt. Das ist bei einem 3-D-Scanner nicht der Fall, der misst den Fuß einfach nur nach Linien ab, so als wäre es eine Prothese. Deshalb hat sich Meister Goll für den Digitizer entschieden. Doch sein Credo lautet: „Wichtig ist, dass man sich nicht mit der Technik beschäftigt, sondern mit dem Menschen.“
Orthopädische Schuhe nach Selbstmordversuch
An die 10.000 Menschen hat Hans Goll bereits mit Schuhen versorgt, in denen sie schmerzfrei oder zumindest unter weniger Schmerzen laufen können. Neben Missbildungen von Geburt an, gibt es noch sehr viele andere Gründe für orthopädisches Schuhwerk. Manche davon gehen auch dem erfahrenen Profi ans Herz, z.B. wenn jemand nach einem Selbstmordversuch, einem Sprung in die Tiefe, nicht mehr ohne orthopädische Schuhe laufen kann. Oder wenn ein ganz banaler Unfall im Büro lebenslange Folgen nach sich zieht. „Jemand ist an einer stinknormalen, offenen Schublade hängen geblieben und hat dabei einen mehrfachen Sprunggelenkbruch erlitten.“ Sehr häufig muss Hans Goll auch orthopädische Schuhe für Diabetiker anfertigen. „Der Zucker reichert sich in den Nervenbahnen an und die verlieren dann ihre Funktion als Signalleiter.“ Medizinisch heikel wird es, wenn dazu noch eine arterielle Verschlusskrankheit kommt.
Wenn die Klingel leuchtet
Plötzlich blinkt ein orangefarbenes Signallicht, das an einer Ecke der Werkstatt hängt. „Das ist unsere optische Klingel.“ In fast jedem der sechs einzelnen Räume der Werkstatt steht eine Maschine, die Lärm macht. Ohne optische Signale würden die drei Angestellten und der Chef unter Umständen gar nicht bemerken, dass ein Kunde vorne im Verkaufsraum steht. Hören können sie das jedenfalls in den seltensten Fällen. Eine dieser vielen rauschenden Lärmquellen ist die Fräse. Die ist direkt verbunden mit dem Computer, der vorhin die exakte Form meiner Knick-Senk-Füße analysiert hat. Die vom Digitizer gemessenen Daten der Kunden werden in eine Art Kunststoffsohle gefräst, die spätere Basis für den ganzen Schuh.
Orthopädische Schuhe im Partnerlook
Julia Floßmann (27) hat einen Schaft in den Händen. Der sieht für Laien bereits nach Schuh aus, nur die Sohle fehlt noch. Geschickt schiebt die junge Frau eine sogenannte Hinterkappe zwischen das Oberleder und das Futterleder des Schaftes. Diese Kappe sorgt für Stabilität, damit der Träger des künftigen Schuhes nicht umknickt. In diesem Fall ist es eine Trägerin. „Ihr Mann trägt immer Stiefel im Partnerlook. Lustigerweise zwei Nummern kleiner.“ Die Hinterkappe wurde innen und außen mit Hirschkleber eingeschmiert. So heißt ein Spezialkleber zur Verstärkung von Schuhkappen. Er dringt in das Leder ein und macht es nach etwa zwei Stunden hart, ohne die Atmungsfähigkeit des Leders zu beeinträchtigen.
Mit dem Hammer in Form gebracht
Jetzt, wo sich die Kappe an der richtigen Position befindet, verteilt die orthopädische Schuhmacherin den Kleber gleichmäßig. Erstaunlicherweise mit einem Hammer, einem klassischen Schusterhammer, mit einem runden Schlagkopf. Damit schlägt Julia Floßmann auch vorsichtig die dünnen Nägel ein, um die Hinterkappe zu stabilisieren. Vor sechs Jahren hat sie ihre Gesellenprüfung bestanden. Die handwerkliche Arbeit macht ihr richtig Spaß, schon als Jugendliche hat sie gerne dem Vater geholfen, einem Zimmerer. Ihr Kollege, ein 19-jähriger Azubi, hat die Prüfung noch vor sich, in einem Jahr ist es soweit. Er stammt aus einer Familie von Schuhmachern, wollte eigentlich Polizist werden, jetzt ist er doch bei seinen Leisten geblieben.
Opa Goll und die Orthopädie-Koryphäen
Genau wie sein Chef. Dessen Großvater Richard Goll senior hat die Firma einst gegründet, 1932. Sein Sohn hat die Firma 1998 dann an Hans Goll übergeben, dem jetzigen Inhaber. Der hat in einer Ecke seines Betriebes ein Foto vom Opa hängen, umringt von anderen Schwarz-Weiß-Fotografien. Darauf zu sehen sind Koryphäen, berühmte Professoren, auch aus der Charité Berlin. Manche ihrer Bücher sind heute noch Standardwerke in der Lehre. All diese Pioniere der Orthopädie, die anfangs als medizinische Wissenschaft noch gar nicht vollkommen anerkannt war, beauftragten Richard Goll senior mit der Produktion medizinisch wirksamer Schuhe. Sein Enkel Hans ist darauf heute noch stolz.
Schuhe für den Scheich
Weitere Überraschung: Das Münchner Familienunternehmen ist durchaus auch so etwas wie ein Global Player. Die Golls fertigen sogar Schuhe für den Innenminister der Vereinigten Arabischen Emirate und für so manche Prinzessin aus dem Morgenland. Mehr als 1.000 arabische Kunden zählt Hans Goll. Deshalb ist auf seiner Homepage ist auch ein Infoblock mit arabischen Schriftzeichen zu sehen. Die Scheichs kommen nach München, weil es hier viele orthopädische Kliniken gibt, die weltweit einen guten Ruf genießen. Die Rezepte aus Bayern bezahlt die Krankenkasse der Vereinigten Arabischen Emirate.
Quelle: www.orthogoll.de
Skifahren in der Wüste
Hans Goll hat direkten Kontakt zur arabischen Botschaft in München. Die Mitarbeiter dort kennen und schätzen seine Firma seit Jahrzehnten als zuverlässigen Lieferanten. Sandalen sind am beliebtesten. Einige davon sind auf der Internetseite für die Kunden aus Nahost zu sehen. Aber mittendrin, zwischen den arabischen Zeilen, steht auch das Foto eines Skischuhs. Skifahren in der Wüste? „Na klar, die haben eine Piste aus Sand gebaut, da kann man ganz toll wedeln“, lacht Hans Goll. Skifahren ohne Schneekanonen? Ausgerechnet in der Wüste ist das offenbar möglich. Hauptsache, die Schuhe drücken nicht…