Der Unbemerkten auf der Spur

 

Eine Reportage von Vivien Varga

Obdachlosigkeit ist auch in München omnipräsent, das Bild des obdachlosen Mannes keine Seltenheit. Doch wie sieht das weibliche Gesicht dazu aus? Obdachlose Frauen bleiben oft unerkannt. Denn sie wahren den Schein bis zum letzten Augenblick.

 

Der Hauptbahnhof in München. Ein regnerischer Montagmorgen. Die Luft ist kühl – zu kühl für den Mai, die Nässe sickert von Regenschirmen und Mänteln auf die kalten Fliesen. Durchsagen, Stimmen und etliche Menschen, die es eilig haben. Abseits des Wirrwarrs steht Susi. In grauer Strickjacke, mit weißen Socken und Adiletten-Schlappen, dicht an die Wand gelehnt. Ihr Blick ist starr in die Menge gerichtet, sie klammert sich an eine kleine Tüte voller Medikamente. Mehr hat sie nicht dabei. Die kurzen, weißen Haare sind nach hinten gestrichen. „Das Wetter ist heute schlecht“, sagt sie mit einer klanglosen Stimme, „vielleicht muss ich heute hier schlafen.“ Wie lange sie schon obdachlos sei? Sie zuckt leicht zusammen: „Ich bin noch nicht so lange auf der Straße, erst seit einem Monat wieder. War drei Monate bei Bekannten.“ Sie redet leise, starrt immerzu nach vorne. „Gestern“, meint sie, „gestern habe ich in einer Pension geschlafen. Für 40 Euro. Es gab kein Frühstück. Heute bleib ich hier.“ Ist das gefährlich? „Ja.“

 

Schweigen

Die meisten Frauen wollen nicht reden, nicht nachdenken über das, was ihnen passiert ist. Susi vom Hauptbahnhof ist in ihrer Not kein Einzelfall. Ein gesellschaftliches Problem, das unerkannt bleibt. Denn obdachlose Frauen schweigen – und hüllen sich in Unauffälligkeit.
Im Gegensatz zu Susi hat Luise ein Dach über dem Kopf. Sie wohnt seit drei Monaten im Haus Agnes, einem Frauenobdach in München.

 

Info

In der Stadt München können obdachlose Frauen in drei Häusern Unterschlupf finden: Das Haus Agnes hält 48 Einzelzimmer bereit und gehört zum Sozialdienst katholischer Frauen e.V. München, wie auch das Haus am Kirchweg mit 14 Zimmern. Das Evangelische Hilfswerk München bietet 40 Zimmer mit dem Haus Karla 51 .

Sie erzählt von der Situation im Frauenobdach – aber nicht von ihrem, wie sie sagt, „chaotischen“ Leben davor. Die Frührentnerin schmückt sich gerne. Mit selbstgemachten Halsketten, einer Vielzahl von auffälligen Ringen und den schönen Geschichten ihres Lebens: „Vor drei Monaten hatte ich gar nichts, jetzt habe ich eigentlich alles.“ Sie blinzelt zufrieden in die Sonne. „Es ist ja auch ganz friedlich hier.“ Sie sitzt im Garten des Haus Agnes, überall grünt und blüht es. Luise fühlt sich wohl, doch das war nicht immer so.

Die Gründe, warum Frauen ihr Zuhause verlieren, sind verschieden. Eine der häufigsten Ursachen der Obdachlosigkeit ist, laut Statistik des Haus Agnes, die Trennung vom Partner. In den meisten Partnerschaften gehörte auch häusliche Gewalt dazu; bis die Frauen den Schritt hinaus wagten. Die aussichtslose Wohnsituation in München und die wenigen Plätze im Frauenobdach zwingen jedoch viele, im Strudel der Gewalt zu verharren. Sie nehmen einiges in Kauf, um nicht mittellos auf der Straße zu landen, das Gesicht zu wahren – nicht selten kehren sie sogar zu dem gewalttätigen Partner zurück.

Mit einem Hauch bayrischem Dialekt erinnert sie sich an ihre ersten Tage ohne Dach über dem Kopf. In einer gemischten Notunterkunft in der Nähe des Münchner Ostbahnhofs. „Das war grauenvoll. Da wohnen manche ein, zwei Jahre zu zweit in einem Zimmer. Da frag ich mich, wie die das aushalten. Ich hab mit einer alten Frau gewohnt. Mein Gott, die hat überhaupt nicht gesprochen. Für mich war’s ‘ne Katastrophe. Allein dieser Zustand im Waschraum – eine Müllhalde. Ich war da drei Wochen.“

 

Warten

Eine relativ kurze Zeit – denn im Haus Agnes rufen jeden Tag Frauen in Wohnungsnot an, viele warten seit Monaten auf einen Platz. „Die Dringlichkeit entscheidet, wer ein Zimmer bekommt“, meint Cornelia Zangl, die Leiterin des Haus Agnes. „Es ist leider auch ein bisschen wie Roulette spielen. Mag sein, dass eine Frau schon seit Wochen anruft – wenn jemand in noch größerer Wohnungsnot ist, müssen wir dieser Person zuerst helfen.“ Sie ist besorgt um die Situation in München: „Die Stadt tut viel, aber leider nicht genug. Unsere zweite Einrichtung wird zwar grade ausgebaut. Aber die Wohnungslosigkeit wird durch die hohen Mieten in München dennoch steigen.“

Aus den Statistiken der Münchener Obdachlosenheime geht hervor: Die hohen Mietpreise in München schaffen einen Stau im Unterstützungssystem. Die Frauen warten durchschnittlich länger in den besseren Unterkünften wie Haus Agnes und Karla 51 auf eine eigene Wohnung oder eine Wohngemeinschaft – während andere dringend eine menschenwürdige Bleibe benötigen würden, jedoch nirgendwo hingehen können. Was bleibt, ist die Unsicherheit, das Warten. Das Unerträgliche ertragen, einen gewalttätigen Partner oder die Straße.

 

Zur Abwärtsspirale gehört meistens auch der Alkohol dazu
Zur Abwärtsspirale gehört meistens auch der Alkohol dazu. Ein alltägliches Bild vom Münchner Hauptbahnhof.

 

Und das schlägt hohe Wellen in der Seele. Laut Statistik der Karla 51 waren von den 183 untergebrachten Frauen 53 psychisch auffällig. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher. Durch die enormen Belastungen kommt fast keine Frau an mentalen Schäden vorbei – doch ihren Kummer behalten sie meist für sich. Diejenigen, die offensichtlich intensive psychologische Hilfe benötigen, lassen sich meistens nicht in eine adäquate Einrichtung bringen. Es dauert Monate oder sogar Jahre, bis sich diese Frauen zum ersten Schritt Richtung Aufarbeitung motivieren können.

„Die meisten verlassen das Haus spurlos, weil sie sich unter Druck gesetzt fühlen. Wohin sie gehen und was mit ihnen darauf geschieht, weiß niemand so genau. Sie wollen sich auch nicht mehr an Regeln halten und haben Angst“, sagt Bettina Spahn, die Leiterin der Münchner Bahnhofsmission.

 

Unsichtbar sein

Hier ist Montagmorgen viel los: Es duftet nach Tee und es gibt gratis Backwaren an der Theke. Die meisten Gäste sind Männer. „Es sind prozentual mehr Männer als Frauen auf der Straße“, so Bettina Spahn. „Aber es sind mehr Frauen, als man eigentlich bemerkt. Das liegt an der eigenen Wahrnehmung. Frauen schaffen es ganz lange, nicht aufzufallen. Sie pflegen sich und wahren die Fassade nach außen. Sie können auch länger gut für sich selbst sorgen als Männer. Wenn man einen Blick dafür hat, sieht man auch viele obdachlose Frauen. Für Frauen ist die Straße aber, vor allem nachts, viel gefährlicher.“

Aus diesem Grund öffnet die Bahnhofsmission den bedürftigen Frauen jede Nacht ihre Pforten. Von abends halb zehn bis sieben Uhr früh können hier bis zu sechs Frauen übernachten. Eine andere Notschlafstelle bietet die Karla 51 mit vier Betten. Wenn Frauen explizit vor häuslicher Gewalt fliehen, bietet das Frauenhaus in München einen Platz über eine Nacht an.
„Es gibt wenige Notschlafplätze, deshalb schlafen manche Frauen auf der Straße. Es gibt Orte in München die sind in der Szene berüchtigt, zum Beispiel der Alte Botanische Garten. Hier sind die Frauen hilflos sexueller Gewalt ausgesetzt. Ein großer Teil übernachtet aber lieber bei einem Mann, um die Nacht zu überbrücken“ erklärt Bettina Spahn. „Auch ein Grund, warum weibliche Obdachlose nicht so sichtbar sind wie Männer: Viele Frauen finden in der ersten Zeit Unterschlupf bei Freunden, oder wenn sie Glück haben bei der Familie. Oder aber bei Männern – doch hierüber wird ungern gesprochen.“

Die Erfahrung der Häuser zeigt, dass rund die Hälfte der Frauen schon seit etwa sechs-zwölf Monaten bei Bekannten gewohnt hat, bevor sie in ein Frauenobdach aufgenommen wurden. Solche prekären Verhältnisse sind typisch für wohnungslose Frauen: Die meisten versuchen ihrer Obdachlosigkeit alleine ein Ende zu setzen, bis alle Stricke reißen und das Wohnen bei Bekannten nicht mehr möglich ist. Bis die innere Kraft ganz zerbricht. Von hier wieder aufzustehen und nach vorn zu sehen, wird, je mehr Zeit vergeht, schwieriger – bis hin zur totalen Hoffnungslosigkeit.

„Es gibt einen Punkt bei jedem Menschen, wo sich innerlich nochmal was zum Besseren wendet“, sagt Bettina Spahn. „Doch dieser Punkt ist trotz Beratung und Hilfe von außen nur sehr schwer steuerbar.“ Eine Bleibe in sauberem und ruhigem Zustand sei dazu der erste Schritt.

 

Hoffen

Auf den Fluren des Haus Agnes ist kaum etwas los. Einige Frauen grüßen Luise flüchtig. „Viele hier verschanzen sich, haben ständig die Jalousien unten und kommen nicht raus. Die meisten haben einen eigenen Fernseher im Zimmer. Dann kommen sie erst recht nicht mehr raus. Sie haben Angst und schämen sich. Ich nicht. Ich schaue nur nach vorne. Gehe oft raus in die Natur oder in der Gegend zum Spazieren und treffe Leute – ich habe gerne Publikum. Es gibt auch noch so viele Orte, wo ich hinfahren möchte. Aber zuerst eine eigene Bude.“

In Luises Zimmer hängen überall selbst gemalte Bilder und Seidentücher, die sie zusammen mit einer Kunsttherapeutin angefertigt hat. Sie lacht: „Wusste ich auch nicht, dass das in mir steckt!“ Sie presst Blumen, die Blumenpresse bildet ein unübersehbarer, riesiger Turm aus Büchern. Luises Balkontür ist offen. Die Sonnenstrahlen tanzen auf den Pflanzen, die sie auf ihrem Balkon beheimatet. Neben all den heruntergelassenen Jalousien fällt ihr Zuhause direkt ins Auge – von Unsichtbarkeit keine Spur mehr.

Auf Luises Balkon blüht es
Auf Luises Balkon blüht es.

 

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vig

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