Blinde und sehbehinderte Menschen sind oft besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Für sehende Menschen ist es schwierig, sich in diese Perspektive hineinzufühlen.
Damit Betroffene gut durch den Alltag kommen, werden sie von Vereinen wie dem Blinden und Sehbehindertenverband Sachsen-Anhalt e.V. (BSVSA) unterstützt. Um einen besseren Einblick in das Leben betroffener Menschen zu erhalten, spreche ich mit Peter Fischer von der BSVSA Beratungsstelle „Blickpunkt Auge“ in Halle an der Saale. Seit 1992 arbeitet er im Verein unter anderem als Beauftragter für Rehabilitation zur Bewältigung des Alltags. Aufgrund seiner ausgeprägten Seheinschränkungen gilt Peter Fischer als stark sehbehindert. Eine Eigenschaft, die er bei seinen Beratungen als wertvolle Stärke ausspielen kann.
Herr Fischer, als Einstieg für Außenstehende: Wie würden Sie ihren beruflichen Alltag beschreiben?
Normalerweise empfangen meine sehende Arbeitsassistenz und ich Leute nicht nur im Büro, sondern sind überregional tätig. Wir fahren zu Selbsthilfegruppen in Sachsen-Anhalt, zum Beispiel nach Eisleben, Merseburg oder in den Burgenlandkreis. In den Gruppen haben wir Informationsveranstaltungen, Hilfsmittelberatungen und dergleichen mehr.
Seit uns Corona letztes Jahr überfallen hat, ist das nur eingeschränkt möglich – wie auch der Besucherverkehr. Ich arbeite schon lange Zeit im Homeoffice. Hier kann ich zwar noch einiges machen, aber ein ganzes Stück von unseren eigentlichen Tätigkeiten ist weggebrochen. Nebenbei gesagt, haben die auch viel Spaß gemacht.
Welche Tätigkeiten sind das genau?
Mein Alltagsgeschäft ist die Beratung von betroffenen Menschen und in dem Zusammenhang auch von Angehörigen und Freunden. Ein großer Bereich sind soziale Fragen. Sei es die Kontaktvermittlung, beispielsweise zu Selbsthilfegruppen, oder Wege aus dieser schwierigen Situation aufzuzeigen. Das ist wichtig, damit die Leute ihr Leben wieder organisiert kriegen.
In unserer vereinseigenen Pension in Wernigerode finden zudem jährlich Präsenzveranstaltungen statt. Dort machen wir Betroffene mit bestimmten Dingen vertraut, wie dem Umgang mit speziellen Hilfsmitteln. Wir können kurz in die Punkt-Blindenschrift reinschnuppern oder andere praktische Dinge wie Tastsinn-Schulungen, Orientierung auf dem Essensteller, Schneiden von Fleisch oder den Umgang mit Geld.
Wir produzieren außerdem ein Hörmagazin, das monatlich erscheint. Dort thematisieren wir von Hobby und Haushalt über politische Sachen oder Sport und Kultur alle möglichen Rubriken. Wegen Corona recherchiere und bündle ich derzeit besonders wichtige Informationen, wie zur aktuellen Corona-Verordnung und zu Impfungen. Die Betroffenen müssten sich das sonst recht mühsam irgendwo zusammensuchen und hätten sicherlich ihre Probleme.
Mit welchen Sorgen kommen blinde und sehbehinderte Menschen besonders häufig zu Ihnen?
Am häufigsten kommen Menschen zu uns, die frisch von einer Sehbehinderung betroffen sind. In der Schulmedizin heißt es: Sie sind austherapiert. Dann ist der Arzt mit seiner Kunst am Ende und die Menschen werden in die Welt entlassen.
„An dieser Stelle gehört schon Mut dazu.“
Für die drängendsten praktischen Fragen sind wir dann da: Wie geht es weiter? Welche Hilfsmittel gibt es? Gibt es geeignete Sehhilfen und wo kann ich diese erproben? Wie komme ich dauerhaft zu diesen Hilfsmitteln? Wie beantrage ich Leistungen, wie einen Schwerbehindertenausweis oder das Blindengeld?
Es ist nicht unüblich, dass von den Kostenträgern erstmal Ablehnungen kommen. Welche rechtlichen Möglichkeiten hat man, im Falle eines Falles? Oft sind die Betroffenen noch nicht im Rentenalter und müssen sich beruflich neu orientieren. Dafür gibt es in Halle beispielsweise ein großes Berufsförderungswerk für Blinde und Sehbehinderte.
Viele Fragen drehen sich auch um das familiäre Umfeld: Wie geht man miteinander um? Wie können sich Angehörige auf die neue Situation einstellen? Für die ändert sich auch Vieles. Um gemeinsam noch ein gutes Leben führen zu können, muss man sich engagieren, aber auch arrangieren.
Das heißt: Hilfe ist wichtig, aber auch, dem Betroffenen eine gewisse Selbständigkeit zu überlassen. Einfache Dinge wie Gemüse schnippeln dauern mit einer neuen Sehbehinderung länger als vorher. Wenn man das immer noch kann und die Stückchen mal größer oder kleiner ausfallen – dann ist das noch gut.
Viele schwierige Fragen, Änderungen und Herausforderungen. Sind blinde und sehbehinderte Menschen besonders mutig?
Es gibt Menschen, wie ich beispielsweise, die von Geburt an betroffen sind. Wir kennen es nicht anders und mussten uns von Vornherein das Leben so einrichten und organisieren, dass wir irgendwie klarkommen.
Andere wiederum erfahren im Verlauf des Lebens eine Sehbehinderung oder im Extremfall eine Erblindung. An dieser Stelle gehört schon Mut dazu. Man muss schon wirklich mutig sein, diesen Weg erstmal gehen zu wollen.
Welche Stellen in der Stadt sind für blinde oder sehbehinderte Menschen besonders kniffelig?
Zum Beispiel die ‚Gute Stube‘, so wird manchmal der Wochenmarkt auf dem Marktplatz genannt. Das ist eine riesige Herausforderung und für jemanden, der Garnichts mehr sieht, fast nicht zu machen. Richtig schwierig wird es, wenn die Buden plötzlich umgestellt worden sind. Und nicht nur die Buden: Große Plätze sind allgemein schwer zugänglich, da einem die Anhaltspunkte als Orientierungshilfe fehlen.
Wie behilft man sich als blinde Person auf dem Marktplatz?
Für sowas sollte man schon ein Orientierungs-Mobilitäts-Training gemacht haben, beispielsweise mit einem Langstock. Damit kann man sich selbst orientieren, nachdem man diese Wege mit einem Trainer geübt hat. Der Stock zeigt auch Hindernisse an und ist eine Kennzeichnung für andere, dass man eventuell Hilfe benötigen könnte. Aber ohne Training geht es nicht.
Was für Alltagsherausforderungen kommen aktuell durch Corona hinzu?
Die ganzen Corona-Hinweise werden oft nur optisch kommuniziert, also mit Hinweisschildern an und in Geschäften, Markierungen und Postern zur Maskenpflicht. Diese sind für uns zum Teil nicht erkennbar. Besonders die Abstandsmarkierungen auf Fußböden sind vom Kontrast her nicht immer optimal und mit dem Blindenstock gar nicht wahrzunehmen.
Genauso schwierig ist es zu erkennen, dass Leute vor einem Geschäft anstehen. Da ist es mir selbst schon passiert, dass ich mich vorgedrängelt habe, ohne es zu wollen. In dem Fall wurde aber mal nicht gemeckert (lacht).
Gibt es Dinge, die Sie von Sehenden nicht hören möchten?
„Wie viele Finger halte ich hoch?“ ist ein gutes Beispiel. Oder wenn jemand fragt: „Na, wer bin ich denn?“ Natürlich hat man von Menschen die Stimme abgespeichert und erkennt sie auch daran. Bei solchen Sprüchen muss man schon ein bisschen an sich halten.
Möchten Sie ihren sehenden Mitmenschen irgendwelche Impulse mitgeben?
Wenn man denkt, dass jemand ein Problem hat, kann man uns ruhig ansprechen, aber nicht vorschnell handeln. Ein berühmtes Beispiel: Die Leute sehen jemanden mit einem weißen Stock am Straßenrand, wollen helfen und sagen: „Ach kommen Sie gleich mal mit, ich will sowieso rüber“, schnappen den Blinden am Arm und bringen ihn über die Straße. Der Blinde will aber gar nicht über die Straße, sondern hat auf jemanden gewartet.
Fragen ist grundsätzlich gut. Man kann zum Beispiel ungefragt an der Haltestelle sagen: „Jetzt kommt gerade die Linie 8.“ Das ist schon hilfreich, da die Straßenbahnen in der Regel nicht nach außen kommunizieren. Aber das wird sich vermutlich auch bald ändern.
Außerdem sollten man sich merken, dass es nicht ‚den Sehbehinderten‘ oder ‚den Blinden‘ gibt. Ein Irrtum, dem viele Menschen unterliegen, ist, dass jemand, der blind ist, nichts mehr sieht. Laut Gesetz zählt man mit 2 Prozent Sehschärfe als blind. Auch wenn die Sehschärfe höher und die Gesichtsfeldeinschränkung sehr groß ist, zählt man als blind. Und das, obwohl man auf einem kleinen Fleck noch scharf sehen kann.
Was hat es mit den Straßenbahnen auf sich?
Bei der Halleschen Verkehrs-AG läuft gerade ein Testprojekt für mehr Barrierefreiheit. Das funktioniert über Bluetooth-Transponder, beziehungsweise einer App fürs Smartphone. Wenn ich die aktiviere, macht die Bahn automatisch eine Ansage.
Bisher waren nur ein paar Bahnen damit im Probebetrieb ausgestattet. Später soll grundsätzlich jede Bahn jedes Funksignal erkennen, egal von welchem technischen Gerät es gesendet wird. Und wirklich nur dann die Ansage kommt, wenn jemand sie braucht.
Gerade mit der Technik ist viel möglich. Welche Entwicklung begrüßen sie besonders?
Besonders begrüßenswert ist, dass Smartphones und Tablets für blinde und sehbehinderte Menschen bedienbar geworden sind. Vorreiter war Apple, indem sie eine aktivierbare Sprachausgabe implementiert haben.
Daraufhin hat irgendwann Google gesagt – „Moment mal, was Apple kann, können wir auch.“ Dann wurde das Android-Betriebssystem entsprechend nachgerüstet. Als die Touchscreens aufkamen, war die Angst groß, dass die Blinden und Sehbehinderten ausgeschlossen wären – ganz ohne fühlbare Tasten.
Dazu kommen noch andere technische Hilfen, wie Bildschirmlupen, einstellbare Kontraste, Vorlese- und Farberkennungsgeräte mit Sprachausgabe, spezielle Abspielgeräte für Hörbücher und natürlich zahlreiche Apps. Leider sind aber nicht alle Apps und Internetseiten bedienbar. Aber im Bereich Navigation, eBook und Informationen hat sich viel getan.
Vielen Dank für Ihre Zeit und das persönliche Gespräch!
Hinweis: Die bearbeiteten Bildergalerien entsprechend nicht der wahrgenommenen Realität eines Betroffenen. Die Bilder versuchen lediglich, den Krankheitsverlauf exemplarisch darzustellen.