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Ein Gespräch am Friedhof
Mahnmal mit ausgemergelten Menschenfür die Opfer des Todesmarsches 1945
Vergangene Welten

Ein Gespräch am Friedhof

Wer nach München durchs Würmtal fährt, der kommt auch am Gemeindefriedhof von Gauting vorbei. Links vom Haupteingang steht ein Mahnmal. Eine Bronzeskulptur zeigt ausgemergelte Menschen mit hohlen Wangen und eingefallenen Gesichtern, die sich mühsam vorwärtsschleppen.  Dem Tod näher als dem Leben.

Ekkehard Knobloch war 30 Jahre Bürgermeister von Gauting und hat in den 1980er-Jahren in Gauting gegen beträchtlichen Widerstand auch aus den eigenen Reihen für das Aufstellen dieses Mahnmals gekämpft.

Herr Knobloch, woran erinnert dieses Mahnmal?

Ekkehard Knobloch: Das erinnert an die über 7000 Häftlinge aus dem KZ Dachau, die hier in den letzten Kriegstagen im April 1945 aus Dachau von der SS ins Ungewisse nach Süden getrieben wurden. Sie kamen auch durch Gauting.

Was weiß man über diesen Marsch?

Er fand wie die meisten dieser Evakuierungmärsche nachts statt und zog sich über Stunden hin. Die Häftlinge hatten Holzschuhe an und selbst Leute, die über einen Kilometer weit weg wohnten, hörten noch das Klappern. Das ging die ganze Nacht hindurch. Das lässt niemanden mehr los.

Es gibt Beschreibungen von den Häftlingen, wie sie schwankend entlang zogen. Aus ihrem Mund lief grüner Speichel, weil sie vor Hunger Graswurzeln gegessen hatten. Und wer nicht mehr weiter konnte, wurde von der SS erschossen. Das war wirklich ein Todesmarsch.

Bis in die 1980er-Jahre gab es nichts, was an das Leid dieser Menschen erinnerte?

Nein. Aber 1985, also 40 Jahre nach Kriegsende, lag ein Antrag bei mir auf dem Schreibtisch, dass an den Faschismus und auch an den Todesmarsch erinnert werden sollte. Ich hatte viel von den älteren Gautingern gehört, die mir mit Entsetzen von diesem Marsch erzählt haben. So kam mir dann die Idee, ein Wegstrecken-Denkmal vorzuschlagen, das eben diesen ganzen Weg von Dachau bis zur Befreiung dokumentiert.

Gab es dagegen nicht deutlichen Widerstand?

Nach anfänglichen Schwierigkeiten – das sei gar nicht verschwiegen – kam es doch dazu, dass sieben Denkmale schon 1989 aufgestellt werden konnten. Heute sind es 24. Eines davon ist in Yad Vashem, der Gedenkstätte für die Opfer der Shoah in Jerusalem.

Es haben sich anfangs doch viele Gemeinden geweigert, so ein Mahnmal aufzustellen?

Ja, es waren Bürgerinitiativen, die dieses Anliegen in ihre Gemeinden hinein getragen haben. Aber wissen Sie, es war auch ein Langzeitprojekt. Man konnte nicht erwarten, dass alle gleich mitmachen. Interessant war, dass Bürgermeister, die selber Kriegsgefangenschaft überlebt hatten, von der Idee überzeugt waren. Demgegenüber fürchteten jüngere Bürgermeister im Wahljahr 1989/90 um ihre Wiederwahl. Sie haben sich vornehm zurück gehalten, nennen wir es einmal so.

Doch mit dem Denkmal alleine war es wohl nicht getan?

Es sollte ja nicht nur ein Mahnmal, ein Erinnerungsmonument für uns, sondern ein „lebendiges Mahnmal“ sein. Das Allerwichtigste ist doch, dass man den Opfern zeigt: Es hat bei uns eine neue Zeit begonnen. Für mich war es deswegen ganz wichtig, dass wir auf die Opfer zugehen, sie einladen und ihnen begegnen. Manche von ihnen haben hier zum ersten Mal von ihrem Leid gesprochen, das war schon herzzerreißend.

Rechts vom Haupteingang schließt sich ein separater Friedhof an. Verschlossen mit einem großen eisernen Tor, in der Mitte ein Davidstern. Ich gehe mit Ekkehard Knobloch zu diesem Teil des Gautinger Gemeindefriedhofes.

Was ist das hier für ein Friedhof?

Das ist der jüdische Friedhof – obwohl es keine jüdische Gemeinde hier in Gauting gab. Die Geschichte dieses Friedhofs beginnt tatsächlich erst mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges.

Wie kam es zu diesem Friedhof?

Das hängt mit dem Kriegsende zusammen. In Gauting sollte eine Luftwaffeneinheit stationiert werden. Daraus wurde 1943 ein Lazarett für die Luftwaffe. Nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches haben die Amerikaner die deutschen Patienten verlegt oder als geheilt entlassen. An ihre Stelle rückten jetzt DPs ein: Orthodoxe, Muslime, aber größtenteils jüdische Patienten. In der Hochbelegungszeit waren es fast 1500 Patienten, die Hälfte davon jüdischen Glaubens.

Können Sie den Begriff DPs erklären?

Displaced Persons. Das waren Menschen aus den Ländern östlich von Deutschland, verschleppte Zwangsarbeiter, aber auch ehemalige KZ-Häftlinge. Und auch die, die auf dem Todesmarsch vom Konzentrationslager Dachau hier durchs Würmtal in Richtung der ominösen Alpenfestung getrieben wurden.

Wie ging es diesen Menschen, die hier in Gauting ins Krankenhaus  kamen?

Sowohl die Zwangsarbeiter als auch die jüdischen Häftlinge waren körperlich fast schon Leichen als sie 1945 befreit wurden. Sie waren also in einem fürchterlichen Zustand, und das hat die Lungenkrankheiten befördert. Die Medizin hat riesige Fortschritte gemacht. Aber damals galt die Lungenerkrankung hierzulande als unheilbar. Erst die Amerikaner, die das Penizillin mitbrachten, hatten größere Erfolge.

Wie lange blieben die Patienten?

Am Anfang sind viele gestorben, weil sie so geschwächt waren. Oft zog sich die Behandlung über Jahre hin, sodass die Patienten auch jahrelang in diesem Krankenhaus leben mussten. Wer nicht gerettet werden konnte und hier starb, wurde auf diesem Friedhof bestattet.

Es gab hier vorher keinen jüdischen Friedhof. Wie genau kam es damals zur Gründung?

In der großen Gemeinschaft im Krankenhaus gab es ein jüdisches Komitee – übrigens mit einem sehr reichen Kulturleben. Dieses Komitee hat verständlicherweise darauf gedrungen, dass die gestorbenen jüdischen Patienten nicht auf  dem christlichen Friedhof beerdigt werden, sondern auf einem separaten jüdischen Friedhof. Die Fläche, auf der wir uns gerade befinden, war die südliche Erweiterung des gemeindlichen Friedhofs.

Könnten Sie uns die Gräber ein bisschen erklären?

Auf einigen der Grabsteine sieht man einen umgeknickten Baum. Dieser steht für alle, die hier bestattet sind. Denn es sind ja junge Leute, die hier liegen. Der abgeknickte Baum symbolisiert  genau dieses jäh abgebrochene Leben. Zwar überlebt zu haben, aber letztlich doch nicht überlebt zu haben. Das ist das Schicksal dieser Menschen gewesen.

Auf manchen Grabsteinen liegen Steine?

Das erinnert an die Wüste. Als die Israeliten aus Ägypten zogen, dauerte es 40 Jahre. Da sind auch Menschen gestorben, und Blumen für Gräber in der Wüste, das war schwierig. So erinnern diese Steine an den Auszug aus Ägypten, an die Befreiung.

Das zentrale Element in der Mittelachse des Friedhofs ist eine Stele. Was genau sagt sie uns?

Diese Stele in Form eines Obelisken mit dem Davidstern oben drauf ist auch vom Patientenkomitee errichtet worden. Sie erinnert als eines der ersten Mahnmale überhaupt in Deutschland an die Ermordung von sechs Millionen Juden während der Nazidiktatur. Diese Stele gibt dem Friedhof erst den Kerngehalt.

Die Inschrift ist hebräisch. Was steht da drauf?

Die Inschrift lautet nach einer Übersetzung von Rabbi Bieberfeld:

„Das ewige Volk soll für alle Ewigkeit seiner Heiligen gedenken. Das boshafte Volk, das sechs  Millionen unserer heiliger Brüder in den Jahren 1933 bis 1945 ermordet, erstickt, verbrannt und getötet hat, soll in Blut seiner Schlachtopfer ertrinken. Ihre Seelen mögen eingebunden sein im Bund des ewigen Lebens.“

Das ist sehr deutlich. Deutlicher vielleicht als Inschriften auf späteren Mahnmalen, oder?

Ja. Das ist ein Schmerzensschrei, ein Aufschrei. Man muss sich klar machen: Diese Menschen hatten gerade erfahren, dass die meisten ihrer Angehörigen ermordet worden waren. Jahrelanges Leid und dann noch hier begraben zu werden – diese Aussicht war niederschmetternd. Und deswegen bringt uns dieser Text zu Recht zum Erschauern.

Wie viele Menschen sind hier bestattet?

Es wurden hier 172 Menschen beerdigt. Nach Mitte der 1950er-Jahre allerdings nur noch vereinzelt. Das letzte Grab ist von Renate Kleinmann. Sie war die Frau von Shalom Jonas Kleinmann. Er war auch ein Überlebender des Lungensanatoriums und ist als einer der wenigen geheilten Patienten in Gauting geblieben. Hier hat er die Christin Renate geheiratet. Als sie 1996 verstarb, war es der Wunsch ihrer Kinder gewesen, dass ihre Mutter auch hier neben ihrem Mann bestattet wird.

Das warf eine große Frage auf: Ist es jetzt wirklich ein rein jüdisch-orthodoxer Friedhof, auf dem nur Menschen jüdischen Glaubens bestattet werden dürfen? Oder kann man eine Ausnahme machen? Die Rabbiner haben schließlich einen salomonischen Ausweg gefunden. Man sagte: Es ist zwar ein jüdischer Friedhof, aber nicht im streng othodoxen Sinne. So konnte Frau Kleinmann zur Erleichterung ihrer Kinder und Enkel hier bestattet werden.

Und jetzt liegt das Paar hier Seite an Seite!

Ja, die beiden Grabsteine liegen ganz nah beieinander, fast ohne Platz zwischen ihnen.

Der Friedhof wirkt etwas verlassen, kommen denn noch Angehörige?

Höchst selten. Im Jahr 2009 hat eine Frau Goldschein, die bis zu ihrem 14. Lebensjahr in Deutschland gelebt hat, in der Buchhandlung hier in Gauting das Buch von Professor Walter Fürnrohr über das Sanatorium entdeckt. Darin sind die Namen der hier Verstorbenen aufgelistet. Frau Goldschein hat im Buch ihren Vater, aber eben auch andere Patienten gefunden, die er während seiner Zeit im Krankenhaus kennen gelernt hatte. Sie beschloss, dass eine Tafel mit den Namender Toten in der Gedenkstätte Yad Vashem angebracht werden sollte. Wir haben also den Friedhof hier und eine Gedenktafel in Yad Vashem, in Jerusalem. So können die Angehörigen  in Israel ihrer Toten gedenken.

Gibt es auch eine Überlebensgeschichte, die Sie kennen?

Ja, das ist die Geschichte von Rafael Katz. Er kam hierher ins Gautinger Krankenhaus und war wie die anderen in einer katastrophalen Verfassung. Er stammte aus Rumänien und wollte eigentlich in die USA. Aber wegen seiner Lungenerkrankung bekam er keine Einreisegenehmigung in die Vereinigten Staaten – die Amerikaner hatten eine wahnsinnige Angst vor der Verbreitung der Tuberkulose. Sein Arzt hat Rafael Katz dann geraten, hier zu bleiben und das hat er getan. Er hat hier geheiratet und eine Familie gegründet. Er und seine Frau sind in Israel bestattet. Aber seine  Nachkommen haben hier noch ein Haus und nach ihm ist in Gauting eine Straße benannt. Er war ein ganz besonderer Mann, ich hab ihn nie klagen gehört.

Woher kommt ihr langjähriges Engagement für die Opfer der Shoa?

Die Wurzeln liegen in meiner Kindheit. Ich habe damals gesehen, wie Zwangsarbeiter durch unser kleines Städtchen in Schlesien zu den Arbeitsstätten getrieben wurden. Bewacht mit Gewehren und mit Schäferhunden. Das hat mich als Vierjährigen sehr aufgewühlt. Daher hat mich das Schicksal Gedemütigter und Entrechteter besonders beschäftigt.

Zur Person:

Ekkehard Knobloch im Interview

Ekkehard Knobloch im Interview

Ekkehard Knobloch ist promovierter Jurist und war von 1972 bis 2002 zweiter und erster Bürgermeister in Gauting.

geboren ist er 1940 in Berlin. Die ersten jahre hat er bei seinen Großertern im schlesischen Freiburg verbracht. 1945 ist er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern nach Bayern geflohen. Das Schicksal der Zwangsarbeiter, das er in Schlesien miterlebt hat, hat er nie mehr vergessen.
Initierte mit großem Engagement die Aufstellung der Wegstrecken-Mahnmale von Hubertus von Pilgrim nd hat als erster Deutscher Überlebende des KZs Dachau und des Todesmarsches ausfindig gemacht und nach Deutschland eingeladen. Das war eine Pionierleistung, denn er hat so die intensive Erinnerungsarbeit durch Zeitzeugen, wie wir sie heute kennen, Ende der 80er Jahre erst möglich gemacht.
Erhielt 2003 auch deswegen das Bundesverdienstkreuz.

Wer noch mehr erfahren möchte:

100 Jahre Waldfriedhof Gauting. Gesellschaft für Archäologie und Geschichte – Oberes Würmtal eV. Eigenverlag 2012

Walter Fürnrohr/Felix Muschialik. Überleben und Neubeginn. DP-Hospital Gauting ab 1945, München und  Kirchheim 2005

Constanze Werner. KZ-Friedhöfe und -Gedenkstätten in Bayern. Schnell & Steiner 2011