Seit ihrer Gründung im Jahr 1968 hilft die Evangelische TelefonSeelsorge München Menschen in Not. Rund eine Million Anrufe hat das Team seither entgegengenommen.
Mit einer Zeitungsanzeige fing alles an. „Bevor Sie sich umbringen, rufen Sie folgende Nummer an …“ Absender der Annonce war ein anglikanischer Pfarrer, der Anfang der 1950er Jahre einen Suizid in der eigenen Familie erlebte. Seine Nichte brachte sich um. Kurze Zeit später entwickelte sich in England die TelefonSeelsorge mit Ehrenamtlichen. Jetzt, mehr als ein halbes Jahrhundert später, wählen allein in München jedes Jahr etwa 20 000 Hilfe und Rat suchende Menschen die Nummer 0800–111 0 111 der Evangelischen TelefonSeelsorge München. Kostenfrei, vertraulich und rund um die Uhr.
Von Mensch zu Mensch: das Erfolgsrezept seit 50 Jahren
Die Evangelische TelefonSeelsorge lebt vom großen Engagement ihrer ehrenamtlich Mitarbeitenden. „Es sind die Menschen, die für andere Menschen da sein wollen, um ihnen zu helfen“, erläutert Gerborg Drescher, Pfarrerin und Vorstand des Evangelischen Beratungszentrums München e.V. (ebz), zu dessen Angebot die TelefonSeelsorge gehört. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, auch an Feiertagen und Wochenenden, bringen sich hier engagierte Bürgerinnen und Bürger in die Gesellschaft ein. Derzeit sind es in München rund 110 Frauen und Männer, die als Ehrenamtliche im Schichtbetrieb TelefonSeelsorge leisten. Ohne sie könnte die große Nachfrage nicht bedient werden.
Laien als Seelsorger ausbilden
Vom revolutionären Geist der Achtundsechziger wurde seinerzeit auch die Kirche ergriffen. In München war es die Initiative von Helmut Harsch, einem späteren Professor in evangelischer Theologie. Der Gründungsleiter der Evangelischen TelefonSeelsorge München beschritt mit dem Konzept, Seelsorge als Lebenshilfe zu begreifen und dafür Nicht-Theologen auszubilden, einen völlig neuen Weg, in dessen Folge sich das Ehrenamt als elementarer Bestandteil der Seelsorge etablierte.
In Beziehung treten: „Ich bin da, ich höre Ihnen zu.“
„Wir sind immer da, so wie Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst“, sagt Norbert Ellinger, der die TelefonSeesorge seit 2015 leitet und aus eigener Erfahrung den Dienst am Telefon kennt. Ein Anrufer habe ihm erzählt, dass allein die Tatsache, „dass ich weiß, dass ich jederzeit anrufen kann, mir so manchen Anruf erspart“. Gerade für die regelmäßigen Anrufer ist die TelefonSeelsorge mehr als Beratung in akuten Krisensituationen. „Wir gehören zum sozialen Netz, sind wie eine Familie“, weiß der Leiter der TelefonSeelsorge.
Grazia und Josef, die im wahren Leben anders heißen, sind zwei der derzeit 110 ehrenamtlich Mitarbeitenden der Evangelischen TelefonSeelsorge in München. Kunsthistorikerin Grazia engagiert sich seit 13 Jahren und sagt: „Die wichtigste Botschaft für die Menschen, die anrufen, ist: Ich bin da. Ich höre zu. Ich zeige Empathie“. Zuhören, Zeit schenken und helfen, die Last zu tragen: Zu spüren, dass man mit seinen Ängsten und Nöten nicht alleine ist, kann erste Impulse zur Selbsthilfe freisetzen. Aber auch der Griff zum Telefonhörer sei schon ein wichtiger Schritt, „der erste selbstbestimmte Akt der Selbstfürsorge“, so Grazia. Wenn auch gleichzeitig ein Eingeständnis, „dass irgendetwas falsch läuft“.
Neue Perspektiven aufzeigen
„Ich kann aus meiner eigenen Lebenserfahrung, aus meinem innersten Mitgefühl heraus beraten und neue Perspektiven aufzeigen. Ich bin am anderen Ende der Leitung aber nicht die Überlegene ‒ diejenige, die große Ratschläge erteilt“, sagt Grazia. Und Josef, der sich seit drei Jahren als Seelsorger engagiert, berichtet über einen Anrufer, der ihm zu Ende des Gespräch gestand: „Es geht mir jetzt besser, auch wenn sich mein Grundproblem nicht geändert hat“. Je nach Bedarf vermitteln die Telefonseelsorger die Anrufenden weiter: an Selbsthilfegruppen, an öffentliche Stellen, den psychiatrischen Krisendienst.
Gesellschaft im Wandel
Menschen aller Schichten und Altersgruppen wenden sich in ihrer Not an die Seelsorger. In einer Gesellschaft, in der sich Lebens- und Wohnformen verändern, in der Familie bestimmte Dinge nicht mehr auffangen kann, in der das Immer weiter, Immer höher, Immer besser das Nonplusultra ist, gehören Einsamkeit und psychische Krankheiten zum Alltag. Pfarrer Norbert Ellinger bestätigt: „Das Thema Einsamkeit nimmt zu.“
Nach Grazias Einschätzung sind die Leiden und Probleme der Menschen jedoch die gleichen geblieben: „Ängste, Panik, Depressionen, Hoffnungslosigkeit, Einsamkeit, Mobbing, Optimierungswahn und Burn-out gab es auch früher. Sie sind heutzutage jedoch präsenter, weil sie Benennungen gefunden haben.“ Norbert Ellinger ergänzt: „Und weil es mehr Bereitschaft gibt, über psychische Erkrankungen zu reden.“
Die Verantwortung bleibt beim Anrufenden
Das Selbstbestimmungsrecht des Anrufenden überwiegt, auch für suizidgefährdete Anrufer gilt das Gebot der Anonymität. Es komme nur selten vor, dass tatsächlich die Polizei eingeschaltet werde, berichtet die Leiterin des ebz, Gerborg Drescher. Und wenn, dann müssten dafür Name und Ort bekannt sein.
„Wir müssen damit leben, dass wir nicht immer helfen können“, sagt Josef. Und Grazia fügt hinzu: „Ich kann niemanden retten, der nicht gerettet werden möchte“. Und dass „Empathie nicht gleich Sympathie“ bedeute, so Gerborg Drescher, –sei eine wichtige Erkenntnis für die ehrenamtlichen Seelsorger, wenn Anrufer sich beispielsweise mit faschistischem Gedankengut äußern.
Anonymität für beide Seiten
Grundpfeiler der Telefonseelsorge ist die Anonymität von Anrufenden und Ehrenamtlichen. Sie ist für beide Seiten hilfreich. „Manchmal erzählt mir jemand, dass er pädophil ist und seine Tochter begehrt. Oft berichteten Anrufer von Seitensprüngen oder davon, dass es eine Geliebte gäbe und die Situation unerträglich sei. „Da ist viel echtes Leid, das gar nicht immer etwas mit schrecklichen Verbrechen zu tun hat. Das kann man mit Bekannten nicht bereden. Bei mir darf der Anrufer über alles Denkbare sprechen“, erzählt Josef, der hauptberuflich als Journalist tätig ist.
Oft müssen sich die Ehrenamtlichen Geschichten von harten Schicksalsschlägen anhören, schwierige Gespräche gäbe es häufig. „Eine Schicht ohne ein Gespräch über Suizidgedanken gibt es kaum“, sagt Josef weiter. Und trotzdem: „Die Offenheit und die tiefgründigen Gespräche, die ich erfahre, sind sehr belebend. Immer wieder bin ich inspiriert davon, wie tapfer manche vom Schicksaal geschlagene Menschen durchs Leben gehen“.
Eine fundierte Ausbildung sichert die Qualität der Beratung
Um für ihren anspruchs- und verantwortungsvollen Dienst gewappnet zu sein, absolvieren alle ehrenamtlichen Beraterinnen und Berater eine intensive einjährige Ausbildung, die an einem Abend in der Woche und auch an einigen Wochenenden stattfindet. Sie schult die Ehrenamtlichen im Umgang mit Traumata und Suizidalität, in Methoden der Gesprächsführung und zu psychischen Krankheitsbildern.
„Ich fühle mich durch die intensive Ausbildung reich beschenkt“, sagt Seelsorgerin Grazia und fügt hinzu, dass die Begleitungen im Anschluss an die Fortbildung und während der Dienste durch das ebz sowie externe Supervisoren sehr eng und sehr konstruktiv organisiert seien.
„Vor meinen Diensten halte ich erst einmal inne.“ Ein Ritual, das sie während ihrer Hospitationen gelernt habe und sie heute noch immer leite: „Wie beim autogenen Training oder wie im Gebet. Denn auch ich brauche Kraft, um den hilfesuchenden Menschen begegnen zu können und mit ihnen in Beziehung zu treten. Und um ehrlich und authentisch zu sein.“
Engmaschige Begleitungen durch das ebz
Zur einjährigen professionellen Qualifizierung hinzu kommen regelmäßige Fortbildungen und Supervisionen. Über den Umgang mit schweren Fällen, die Kraft rauben, sagt die engagierte Seelsorgerin: „Ich suche unmittelbar das Gespräch mit den Kollegen. Nachts sind wir zu zweit im Dienst. Ich kann dann eine Pause machen, mich austauschen.“ Auch wisse sie, dass sie jederzeit die Supervisionen durch die Hauptamtlichen der Evangelischen TelefonSeelsorge in Anspruch nehmen könne, einzeln oder in der Gruppe. „Es gibt mehrere Supervisionsgruppen mit Externen, in denen belastende Fälle ausführlich besprochen werden.“
„Für mich ist es besonders schlimm, wenn Kinder betroffen sind, bei Trennungen oder wenn ein Elternteil verstorben ist. Nach solchen Gesprächen mit Eltern oder wenn ich jemanden trösten muss, der eine Stunde lang fast nur weint, brauche ich eine Pause“, erzählt Josef, der selbst Familienvater ist.
Die stetigen Begleitungen durch die Hauptamtlichen und externen Fortbilder vermitteln auch: Es ist wichtig, die eigenen Grenzen anzuerkennen. Denn die Selbstfürsorge gilt auch für die Ehrenamtlichen.
Grundvoraussetzung für die Seelsorger: Empathie
Bei Grazia war es ein persönlicher Beweggrund, sich als Seelsorgerin zu engagieren: eine schwere Krankheit, bei der sie fast ihre Stimme verlor. Josef führte das Motiv, „der Gesellschaft etwas zurückzugeben“, in die TelefonSeelsorge. Für Norbert Ellinger, der die Auswahlgespräche führt, sollten Bewerber mehrere Grundvoraussetzungen erfüllen: Offenheit und die Bereitschaft, sich immer wieder neu auf einen Gesprächspartner einstellen und sich in seine Situation hineinversetzen zu können. Auch auf die Frage, wie man mit eigenen Krisen umgehe, sollten sich Interessierte einstellen. Viele der aktiven Seelsorger haben selbst Krisen erlebt und möchten nun „etwas zurückgeben“, bestätigt Norbert Ellinger.
Nach der einjährigen Ausbildung übernehmen die Seelsorger in der Regel zwei Dienste pro Monat: eine Tag- und eine Nachtschicht à fünf Stunden. Hinzu kommen Supervisionen: einmal pro Monat eine interne sowie in regelmäßigen Abständen Begleitungen durch externe Fachleute.
Mit den neuen Medien Schritt halten: Seelsorge digital
Ergänzend zum telefonischen Beratungsangebot können Ratsuchende seit 2010 die Seelsorgerinnen und Seelsorger auch per E-Mail oder Chat kontaktieren. Gerade jüngere Menschen nehmen diese Angebote wahr, die Nachfrage ist hoch: „Wenn ein Berater einen Chat-Termin online stellt, ist er meistens nach fünf Minuten weg“, sagt der Theologe Ellinger. Gerborg Drescher ergänzt: „Unser Ziel für die Zukunft muss sein, dieser offensichtlich großen Nachfrage noch besser gerecht zu werden. Dafür benötigen wir aber mehr Ressourcen, weil neue Technik immer auch teuer ist.“
„Es ist wichtig, dass wir mit der Gesellschaft mitgehen, am Puls der Zeit sind“, fügt Josef hinzu, der neben dem Dienst am Telefon auch im virtuellen Raum berät. Bei den meist jungen Anrufern im Alter von 13 bis 19 Jahren ginge es hauptsächlich um die Themen Identitätsfindung und fehlendes Selbstwertgefühl, Mobbing in der Schule oder Probleme mit den Eltern.
50 Jahre praktische Lebenshilfe: ein Angebot, das unverzichtbar ist
Eine Herausforderung für die nächsten Jahre sei die Sicherstellung der Finanzen, so die Leiterin des ebz, Gerborg Drescher. Denn nicht nur die Ausbildung und Begleitung müssen finanziert, auch die tagtäglichen Ausgaben gedeckt werden. Ob Arbeitsplatz mit Rechner und Headset, das frisch bezogene Bett zum Ausruhen oder die Verpflegung während der Dienstzeiten: „Es darf nicht weiter reduziert werden“. Wegen langer Wartezeiten haben gerade psychisch kranke Menschen derzeit nur einen zeitverzögerten Zugang zu therapeutischen Maßnahmen: Viele müssten drei bis acht Monate auf einen Therapieplatz warten, berichtet die ebz-Leiterin weiter. Und kritisiert: „Das schlechter finanzierte soziale System muss auffangen, was das Gesundheitssystem nicht leistet.“
Nicht von der Kanzel, sondern von Mensch zu Mensch, vertraulich und auf Ohrenhöhe, hilft die Evangelische TelefonSeelsorge jedem Hilfesuchenden. „Dass Menschen, ohne dass es ihr Beruf ist, ihre Zeit und ihre Energie für andere geben, ist unser Erfolgsrezept“, sagt Gerborg Drescher. Theologe Norbert Ellinger fügt hinzu: „Wir gehen hin zu den Menschen und helfen, das Leid zu tragen, ohne zu verurteilen“. Diesem zutiefst christlichen Dienst am Nächsten haben sich mit Herz und Seele alle Mitarbeitenden verschrieben. Denn „jeder Mensch ist ein Geschöpf Gottes“. Und „jeder braucht auch mal Hilfe“, weiß die Pfarrerin und Leiterin des ebz.
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