Ein Popsong als Kampflied: „Kök böre biz“, der Ruf des „Blauen Wolfes“, ist die Hymne von Regimekritikern in Xinjiang und der weltweiten Uiguren-Community im Exil, deren Hochburg München ist.

Wo „Uiguren“ draufsteht sind nicht unbedingt welche drin. Das stelle ich auf meiner sich etwas schleppend dahinziehenden Suche nach dem „Weltkongress der Uiguren“ fest. Telefonisch oder per Mail ist niemand zu erreichen bei der Dachorganisation von Exilanten jener vorwiegend sunnitisch geprägten muslimischen Volksgruppe, die im Nordwesten Chinas zuhause ist. In Europa verzeichnet Deutschland mit etwa 1500 die höchste Zahl der aus diesem von der Welt scheinbar vergessenen Winkels des Riesenreiches Geflüchteten. Mit mehr als der Hälfte davon ist München bundesweiter Spitzenreiter. Ost-Turkestan nennen die Auslands-Uiguren ihre an Indien, Kirgisistan, Nepal, Kasachstan und die Mongolei grenzende Heimat. Peking dagegen spricht von der „Autonomen Region Xinjiang“, seit das Gebiet im Zuge der kommunistischen Machtübernahme 1949 der damals gegründeten Volksrepublik einverleibt wurde.

Nicht aus zwar englischsprachigen, aber regimetreuen chinesischen Presseorganen wie der Global Times, sondern hier vor Ort in München will ich aus erster Hand erfahren, wie es bestellt ist um die „Autonomie“ dieses als Vorzeigeprojekt der Neuen Seidenstraße propagierten Landstriches. Dass von dort rund 10 Millionen Einwohnern mindestens eine in offiziell und euphemistisch  „Weiterbildungslager“ titulierten Gefängnissen sitzt, haben letzten November die „China Papers“ ans Licht gebracht: Enthüllungsgeschichten des weltweit 75 Journalisten und 17 Medien umfassenden „International Consortium of Investigative Journalists“ (ICIJ). Ihnen liegen von der chinesischen Regierung als Geheimdokumente klassifizierte, dennoch aber von kommunistischer Parteiseite veröffentlichte Berichte zugrunde.

Massive Menschen- und Völkerrechtsverletzungen

Adrian Zenz, ein deutscher China-Experte, der in Washington, D.C. für den konservativen Thinktank „Victims of Communism Memorial Foundation“ tätig ist, hat das Material auf Echtheit geprüft und ausgewertet. Sein Fazit: „Eindeutige Beweise für einen global agierenden Überwachungsstaat.“ Das deutsche Auswärtige Amt spricht immerhin von „faktischen Umerziehungslagern“. Dass die Horror-Lager tatsächlich an KZs gemahnen, geht aus einer 137-Seiten-langen Liste hervor, die der in Norwegen lebende uigurische Whistleblower Abduweli Ayup der Deutschen Welle zugespielt hat: Detaillierte Informationen über 300 Lagerinsassen in Xinjiang sowie 1800 ihrer Angehörigen und Freunde in aller Welt. In Hinblick auf den unter deutscher Ratspräsidentschaft geplanten EU-China-Gipfel im September in Leipzig gewinnen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers Rügen an China wegen „massiver Menschen- und Völkerrechtsverletzungen“ auf der letzten Münchner Sicherheitskonferenz noch an Gewicht.

 

Adolf-Kolping-Strasse 9, im Münchener Bahnhofsviertel. Viele Namensschilder, keines aber, das irgendwie exotisch anmuten und auf den 2004 in der bayerischen Landeshauptstadt gegründeten Weltkongress hinweisen würde. Nachfrage in einem zumindest irgendwie türkisch wirkenden Callshop: „Ah, Konsulat Sie suchen?“ ruft dessen Betreiber aus, nach einigem Verständigungsschwierigkeiten geschuldetem Hin und Her sichtlich erfreut, weiterhelfen zu können. Er dirigiert mich in den dritten Hinterhof des Nachbargebäudes. „Warum Konsulat?“, frage ich, und ob er vielleicht selbst Uigure sei. „Nein, ich Iraker, aber gute Leute, das. Uiguren okay, very good people!“

Schutzzone versus Feindesland

Die blau-silberne metallene und mit arabischen Schriftzeichen versehene Plakette an der Mauer mit dem arg versteckten Eingang wirkt denn auch nobel wie die eines Konsulats. Was der Weltkongress für viele der hier ansässigen Uiguren auch ist: eine Schutzzone. Im Gegensatz zur offiziellen Vertretung Chinas auf dem ehemaligen Siemens-Gelände in Obersendling, die viele Uiguren als Feindesland und erweiterten Arm des Bespitzelungs-apparates der Regierung empfinden. Tatsächlich wurden 2009 im Bayerischen Verfassungsschutzbericht derartige Vermutungen bestätigt und vom Freistaat Anklageverfahren wegen Spionage gegen vier Botschaftsbedienstete eingeleitet.

Putzig, das kleine Klingelschild, auf dem ganz generisch nur „Uiguren“ steht. Als könne man auch welche finden, die „Russen“, „Polen“ oder etwas in der Art verkündeten. Ich läute lange, bis der Summer anschlägt und aus der Gegensprechanlage Zerhacktes, Unverständliches erklingt. Egal, ich bin drin, und werde wohl gleich den einen oder anderen der ja doch eindeutig als „Uiguren“ kenntlich gemachten Menschen treffen. Ohne wirkliche Hinweise auf Büros klappere ich Stockwerk um Stockwerk ab, bis im dritten schließlich eine hochgewachsene und so gar nicht zentralasiatisch wirkende Blondine eine Tür öffnet. Eva, stellt sie sich vor, „Stocker der Nachname“. Politologin aus Berlin und ganz neu hier, erfahre ich. In ihrer ersten Woche als Projektmanagerin überwacht sie Umbaumaßnahmen der Räumlichkeiten, damit alles in neuem Glanz erstrahlt für die Feierlichkeiten zu „Noruz“, dem muslimischen Neujahrsfest, das hier, an diesem Schmelztiegel der Uiguren, am 21. März groß gefeiert werden soll. Und nein, bis dahin stünde die Kommunikationsanlage wohl weiterhin still und außer ihr wäre niemand anzutreffen, erklärt Eva Stocker. Auch nicht ihr Chef, Dolkun Isa, Präsident und Mitbegründer des Weltkongresses, der gerade auf einer Tagung des UN-Menschenrechtsrats in Genf die uigurische Trommel rühre.

Die uigurische Trommel rühren

Das tue er unermüdlich, erzählt er dann bei unserer ersten und am Tag vor den Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen letztmöglichen persönlichen Begegnung in seinem Büro. Ordnungsgemäß begrüßen wir uns mit dem Wuhan-Footshake, was zum Auftakt eine lockere Note in ernste Gesprächsthemen bringt. Ganz fertig sind sie nicht, die Renovierungen, aber wo vor einer Woche noch gestapelte Pappkartons die Wände verdeckten, sind sie nunmehr sichtbar, Hunderte von Porträts Vermisster, vermutlich in die Lager von Xinjiang Verschleppter. Darunter auch Ilham Tohti, letztjähriger Sacharow-Preisträger. der seit seiner Verhaftung 2014 verschwunden ist. Die Auszeichnung des Europäischen Parlaments musste seine Tochter Jewher Ilham in Straßburg stellvertretend entgegennehmen. Die Dokumentarfilmerin ist auch Autorin eines bisher nur auf Englisch erschienenen, herzzerreißenden Plädoyers für die uigurische Sache: „A Uygur’s Fight to Free her Father“ (2015, University of New Orleans Press). Das lugt hervor aus einer der unzähligen, noch nicht wieder ausgepackten Kisten und natürlich kennt und schätzt Dolkan Isa die Verfasserin.

Der 52-jährige kommt zunächst darauf zu sprechen, wie er und seine Mitstreiter vor dem symbolträchtigen Hintergrund von Daniel Bersets  dreibeiniger „Broken-Chair“-Skulptur auf der Genfer Place des Nations vor dem UN-Gebäude als Mahnmal eine Foto-Installation mit ebendiesen Bildern vermisster Landsleute präsentiert haben. Auch  zwei seiner Brüder zählen dazu. Dass seine damals 78-jährige Mutter 2018 nach fast 12 Monaten Aufenthalt in einem der Lager starb, ist für ihn eine traurige Gewissheit, die seine Schwester ihm noch übermittelt hat. Isas haselnussbraune Augen verdunkeln sich und ein schmerzlicher Zug erscheint um den Mund, als er berichtet, dass letztere sich wohl vom Regime habe instrumentalisieren lassen. Das schließt er aus einem vom offiziellen China weitverbreiteten Video. Darin distanziert sich vor etwas mehr als einem Jahr die Schwester von ihrem Bruder und verbreitet, er und seine gesamte Organisation seien „Lügner“. Und: „ Terroristen“. Dass auch sein Vater in einem der Lager verstorben sei, musste er in der chinesischen Zeitung Global Times lesen, und der traut er genauso wenig, wie sie ihm. Allein seit Ende letzten Jahres seien dort 10 Hetzartikel gegen ihn und als indirekte Drohung auch seine Münchener Privatadresse veröffentlicht worden.

 

Wenn Dolkun Isa Angst kennt, was man ihm wohl unterstellen kann, dann lässt er sie sich nicht anmerken. Seit er vor 26 Jahren seine Heimat verließ, stand er auf Geheiß Chinas auf der „Red Notice“-Fahndungsliste von Interpol und wurde im Lauf der Zeit auf seinen Reisen zig-Mal verhaftet, bis sein Eintrag vor etwas über zwei Jahren gelöscht wurde. „Immer wieder hat mich das deutsche Auswärtige Amt rausgeboxt und mehrmals mein Leben gerettet.“ Im Moment herrsche zwar Ruhe, aber ob die von Dauer ist, daran hat er so seine Zweifel: „Der lange Arm Chinas wird länger und länger.“ Und appelliert an die internationale Gemeinschaft: „Nach den China-Papers gibt es für Nicht-Einmischung keine Entschuldigung mehr. Dass Pekings ‚No Camps‘- Narrativ eine riesige Lüge ist, daran kann es jetzt keinerlei Zweifel mehr geben.“

Odyssee  von Osten nach Westen

Angefangen hat Dolkun Isas Odyssee mit einem vergleichsweise harmlosen, viermonatigem Hausarrest, den er sich 1988 als Physikstudent in Xinjiang einhandelte: 80 Prozent seiner uigurischen Landsleute dort seien damals Analphabeten gewesen und diesem der chinesischen Regierung sehr genehmen Umstand habe er entgegenwirken wollen, indem er Kommilitonen mobilisierte, die Freiwilligendienste als Lehrer leisten sollten. Zu diesem Zweck hatte er eine Demo gegen die Diskriminierung seines Volkes seitens der chinesischen Machthaber organisiert, die jenen ein Dorn im Auge war. Zwei Jahre lang hielt sich der nunmehr Zwangs-Exmatrikulierte mit einem kleinen Laden in seiner Heimatstadt Aksu über Wasser, um dann nach Peking zu gehen und dort ein uigurisches Restaurant aufzumachen. Weil sich dort nicht nur seine Landsleute versammelten, sondern das Lokal auch für westliche Ausländer zum Hotspot avancierte, wurde es unter Polizeibeobachtung gestellt und Dolkan Isas Pass eingezogen. „Money was my Ausreisevisum“, erklärt er in seiner abenteuerlichen Mischung aus gleichermaßen gutem Englisch und Deutsch mit leisem Lächeln. Das sofort verschwindet, als er erzählt, wie er damals seine im dritten Monat mit der heute 25-jährigen Tochter schwangere Frau zurücklassen musste. Irgendwie schaffte er es in die Türkei, wo er in Istanbul und Ankara Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen studierte. Um dann 1996 nach seinem Master-Abschluss Asyl in Deutschland zu beantragen. 8 Monate dauerte die Bewilligung damals, und nach mehr als dreieinhalb Jahren Trennung konnte er seine Frau nach München nachholen und erstmals auch seine Tochter in die Arme schließen. Zwei Jahre später kam der Sohn hier zur Welt, seit 2006 hat die Familie die deutsche Staatsbürgerschaft und somit einen gewissen Schutz vor Anfeindungen seitens der chinesischen Regierung, die den 2004 von Dolkun Isa mitgegründeten Weltkongress als terroristische Organisation einstuft. 2017 übernahm er die Präsidentschaft von seiner Vorgängerin, der schillernden Rebiya Kadeer, 73, die es von bescheidenen Wurzeln als Wäscherin in Xinjiang zur Multimillionärin gebracht hatte und als kommunistisches Aushängeschild von Peking gefeiert wurde, bevor sie zur globalen Menschenrechtsaktivistin wurde und sich ins Exil nach Washington begab. Ihren ungewöhnlichen Weg beschreibt Kadeer übrigens in ihrer 2007 zusammen mit Alexandra Cavelius verfassten, hochspannenden Autobiografie „Die Himmelsstürmerin: Chinas Staatsfeindin Nr. 1 erzählt aus ihrem Leben“ (Heyne, 19,99 Euro).

Sanktionen: die Spitze vom Eisberg

Unlängst hat der Weltkongress neben dem Münchener Hauptquartier und dessen Dependance in Berlin auch in Washington ein Büro eröffnet, um nicht nur EU-Staaten, sondern auch die US-Regierung aufzufordern, angesichts massiver Menschenrechtsverletzungen auf China Druck auszuüben. Immerhin habe die Trump-Administration Sanktionen gegen acht chinesische Firmen und 20 uigurenfeindliche Institutionen erlassen, aber das sei erst die Spitze des Eisbergs, mit viel Luft nach oben. Dolkun Isa schätzt, momentan seien etwa 80 000 Uiguren aus den Lagern zur Zwangsarbeit abkommandiert. In chinesischen, aber auch internationalen Firmen. Nike, zum Beispiel, Adidas und VW, die alle in Xinjiang Werke betreiben. Und das werde er unerschrocken anprangern, wo immer er kann, egal um welchen Preis, versichert Dolkan Isa. Um mich mit seinem persönlichen, kämpferischen Leitspruch zu verabschieden: „Freedom just doesn’t come for free.“ Nein, umsonst ist ein solch hohes Gut nicht zu haben. „Happy Noruz“, sagt er noch und deutet eine Umarmung an. So wie geplant wird es nicht sein, das fröhliche Neujahrsfest, dass sie hier in den frisch aufgehübschten Räumen feiern wollten. Es fällt nun mal auf Tag Eins der Ausgangsbeschränkungen. Aber die blaue Flagge des uigurischen Widerstands werden sie alle aus ihren Fenstern daheim hissen, farbenfrohe Tracht tragen, tanzen, die Tische mit Leckerbissen aus der Heimat beladen und aus voller Kehle ihre inoffizielle Widerstandshymne schmettern: Das Lied „Kök böre biz“ des  Musikers Artur Ilakhunov. Der Titel bedeute „Blaue Wölfe“, erklärt Dolkan Isa, Rudelführer der uigurischen Opposition, die von diesem Knotenpunkt im Herzen Münchens aus ihre Message hinausträgt in die Welt.

Einer seiner wichtigsten Mitstreiter außerhalb der uigurischen Exilgemeinschaft ist Ulrich Delius, Direktor der Göttinger „Gesellschaft für bedrohte Völker“, die sich in ihrer Menschenrechtsarbeit speziell für Uiguren, aber auch unterdrückte Kasachen und Tibeter einsetzt. Und dagegen angeht, dass China ständig versuche, regimekritischen Organisationen wie der seinen den NGO-Status zu entziehen, zum Beispiel bei den Vereinten Nationen, wo es ja eines der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats ist.

Gigantisches Freiluftgefängnis an einer sanitären Seidenstraße

Delius, der seit drei Jahren nicht mehr in China einreisen darf, bezeichnet im Telefongespräch die Region Xinjiang als „gigantisches Freiluftgefängnis an einer sanitären Seidenstraße“ und ist überzeugt, dass die dortigen Lager neben Umerziehungs- und Assimilierungszwecken jetzt vermehrt der Zwangsarbeit dienen. Satellitenbilder zeigen tatsächlich, dass sich immer mehr Fabriken direkt vor den Toren der Lager ansiedeln. „Wir fordern Firmenverantwortung. Fragen beispielsweise europäische Textilriesen wie H&M oder C&A, die in China fertigen lassen, ob sie denn wirklich die Lieferketten kennen und sicherstellen können, dass ihre Produkte nicht in Zwangsarbeit entstehen. Auch große deutsche Unternehmen wie Siemens, BASF und allen voran VW müssen ihr Engagement in Xinjiang auf den Prüfstand stellen.“

Den Wolfsburger Autobauer hat er verstärkt im Visier. Weil Niedersachsen Mehrheitsaktionär im Konzern ist, organisierte Delius im Februar, zusammen mit Dolkun Isa, als Seitenhieb auch an VW eine Protestkundgebung in der Landeshauptstadt Hannover. Zumal dort auf Anfrage mehrerer Abgeordneter der Grünen die Landesregierung verlauten ließ, VW werde ab Mitte diesen Jahres in Xinjiang neben dem „Santana“ auch verstärkt in die SUV-Produktion einsteigen. Zu Menschenrechtsfragen beriefen sich Ministerpräsident Stephan-Peter Weil (SPD) und sein Stellvertreter, Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) allerdings auf ihre Verschwiegenheitspflicht. Wen wundert’s, sitzen doch beide im Aufsichtsrat von VW.

Engagement in Xinjiang auf den Prüfstand stellen!

Schon als Delius und Isa 2012 anlässlich der Eröffnung eines Volkswagen-Werks in der Provinzhauptstadt Urumschi in Xinjiang ein „6-Augen-Gespräch“ mit dem damaligen VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn führten und ihn aufforderten, Uiguren vor Ort spezifisch zu fördern und Menschenrechtsverletzungen entgegenzuwirken, sei der, sagt Delius, „fuchsteufelswild“ geworden. Mit ihrem Anliegen wären die beiden bei Winterkorn „auf komplett taube Ohren“ gestoßen. Gegen letzteren hat dieser Tage nun die Staatsanwaltschaft Braunschweig in punkto Abgasaffäre Anklage erhoben, wenngleich ein Prozess noch in weiter Ferne scheint. „Wenn sich die Wogen darum und natürlich auch die aktuelle Corona-Pandemie etwas geglättet haben, werden wir sicher den Dialog mit VW wieder eröffnen“, erklärt Delius.

Nichts da: Kein Noruz, kein Ramadan?

Das Virus macht mir einen Strich durch die Rechnung: Ich hatte mich so gefreut, einen Hauch uigurischer Lebensart aufzuschnappen bei den Veranstaltungen zum Neujahrsfest Noruz, die für den 22. März im Münchener Museum Fünf Kontinente in der Maximilianstraße und den Tag davor im EineWeltHaus in der Schwanthalerstraße anberaumt waren. Letzteres leitet Narissam Ismailova, die auch dem von ihr gegründeten Kulturverein ARZU vorsteht. Diese Buchstaben stehen für einen uigurischen Frauennamen, der so viel wie „Wunschtraum“ bedeute, erklärt sie mir bei unserem just am Vorabend des Shutdowns letztmöglichen Treffen im von ihr vorgeschlagenen Restaurant „Tengri-Tagh“ direkt am Goetheplatz. Neben dem „Taklamakan“ am Isartorplatz und dem „Kashgar“ in der Dachauer Straße beliebter Versammlungsort der uigurischen Community  dieser Stadt. Mit fantastischem Essen, das mir so Lust macht auf mehr davon zu Noruz, aber damit wird’s wohl nichts, meint Narissam, diesmal müssten wahrscheinlich die Familien unter sich bleiben, wenngleich bei jeder daheim gewiss ganz groß aufgetafelt würde. Immerhin das sei möglich, in Xingjiang selbst dürfe dieses muslimische Fest und andere wie das Fastenbrechen am Ende des Ramadan auch seit 2000 gar nicht mehr zelebriert werden.

Pasta und Marco Polo

Gut, dass ich sie noch kosten kann, die ersten Laghman meines Lebens, handgezogenene uigurische Nudeln, die mir Pasta fortan fad erscheinen lassen würden, prophezeit Narissam mit breitem Grinsen. Unmöglich, erwidere ich, muss aber dann zugeben: Ich schmecke, was sie meint. Das hat historische Gründe: Auf seinen Expeditionen entlang der Seidenstraße habe Marco Polo zwar etwas entdeckt, das dann mit seiner Rückkehr den Siegeszug zum Nationalgericht seiner italienischen Heimat antreten sollte, aber eben nicht ganz authentisch sei. Schlaue,  heimatverbundene uigurische Köche, die traditionell  in den Palästen der chinesischen Kaiser die hochgeschätztesten Küchenchefs gewesen wären, hätten dem großen Entdecker absichtlich ihr Laghman-Rezept nur in der Light-Version verraten, erklärt sie. Und lacht sich fast schlapp über die Gerissenheit ihrer Vorfahren.

 

Neben ihrem kulturellen und politischen Engagement für ihr Volk arbeitet Narissam bayern- und zuweilen auch bundesweit als Dolmetscherin. Sie kommt zum Einsatz in vielen Belangen, die ihre Landsleute involvieren: Eheschließungen und Scheidungen, Verhaftungen, Asyl- oder Gerichtsverfahren. „Es gibt nichts Menschliches, was mir fremd wäre. Und Mediation hat bei uns große Tradition.“ Ein wichtiges Element der Neujahrsrituale an Noruz sei „Namaqui“, die Versöhnung, sagt Narissam: „Zusammen essen, singen, tanzen, lachen, auch mal weinen, einfach Gemeinschaft zelebrieren ist das Eine. Zu Noruz gehört Solidarität, und das heißt, an diesem Tag auch Streitigkeiten zwischen Eheleuten, Familien, ganzen Dörfern zu schlichten und zu begraben.“

Narissam mag ihren Kosenamen „Nurni“, abgeleitet von „Nurnissa“, „schönes Mädchen“ in der Sprache ihrer uigurischen Heimat. Wie Dolkun Isa kam auch sie auf Umwegen nach Deutschland. Ihr Großvater, Awusman Kurwankuli, war ein unter den in Xinjiang ansässigen Uiguren hochverehrter, vom chinesischen Regime verpönter Volksdichter, berichtet Nurni. Dessen Erzählungen seien teilweise Sujet der hier im Tengri-Tagh-Restaurant überall aufgehängten Reproduktionen von Bildern des uigurischen Malers Ghazi Emet: Sie zeigen mythische Liebenspaare in enger Umarmung, farbenfrohe Tanzszenen mit höfisch-opulent gekleideten Damen und Herren oder wilden Derwischen, Schlachtgetümmel mit Reitern in mittelalterlichen Rüstungen. Eine Legende, dieser Großvater, aber eben auch jemand, der wegen der immer heftiger betriebenen Assimilierungspolitik der Regierung Gefahr bedeutete für die Familie, sagt die Enkelin. Mit ihren Eltern, einem Bruder und neun Schwestern floh sie nach Kasachstan, wo sie in einem kleinen Dorf namens Chong Aksy aufwuchs, unter weit weniger Kasachen als Uiguren.

Ein steiniger Weg aus der Steppe an den Main

Und wie kam sie von dieser Abgeschiedenheit aus zu dem DAAD-Stipendium, das sie 1995 nach Deutschland führte, will ich wissen. Und überhaupt zu dieser Sprache? Nach dem obligatorischen Jahr Feldarbeit auf einer Kolchose bekam sie in Almaty, der damaligen kasachischen Hauptstadt, einen Studienplatz. Für Medizin, zunächst. Schnell habe sie gemerkt, dass sie einfach kein Blut sehen könne. Und was sie wirklich interessierte: Geschichte. Dieses Fach aber gab es dort, der vielen Russlanddeutschen wegen, nur auf Deutsch. Also büffelte sie –  nach Russisch –  diese weitere Fremdsprache. Ihre wissenschaftliche Arbeit über eine preußische Expedition nach Ost-Turkestan im ausgehenden Kaiserreich des frühen 20. Jahrhunderts brachte sie schließlich nach Frankfurt/Main, wo sie, zusammen mit drei anderen unter 300 Kandidaten weltweit Ausgewählten, an der dortigen Goethe-Universität landete und forschte, sagt sie. Stolz, verständlicherweise. Nach München dann zog es sie wegen des sich hier formierenden Weltkongresses von Dolkun Isa und seinen Mitstreiter*innen für die uigurischen Landsleute. Im Exil läge eben deren Ballungszentrum an der Isar, nicht zuletzt aus dem Grund, dass von hier aus lange Jahre im Kalten Krieg Radio Free Europe mit seinem Sender am Englischen Garten auch auf Uigurisch gegen den Kommunismus in vieler Herren Länder wetterte. Und dabei Wichtiges, oft Richtiges, zur Sprache gebracht hätte.

Genau das schwebt ihr vor mit den Kulturveranstaltungen, die Narissam Ismailova mit ihrem Verein ARZU immer wieder auf die Beine stellt. An unseren Tisch kommt ihre Freundin Elanur, und Nurni, das „schöne Mädchen“, stellt sofort die Etymologie auch deren uigurischen Namens klar: „Das beste Licht“. Im Schlepptau hat Elanur ihre Tochter Diraba, uigurisch „Schönes Herz“. Diese, genannt Dila, Achtklässlerin eines Gymnasiums am Harras, bezeichnet sich als „echtes Münchner Kindl“. 2006 hier geboren, nachdem ihre Mutter drei Jahre zuvor aus familiären Gründen aus Xinjiang hierhergekommen und dann einen uigurischen Landsmann geheiratet hatte. „Es gibt wenige Uiguren hier, die Ehen schließen mit Nicht-Uiguren, einfach aus dem Grund, die Extinktion unseres Volkes aufzuhalten“, sagt Dila. Jeden Samstag, wenn ihre Mitschülerinnen frei haben, geht sie normalerweise in den Unterricht für uigurische Kinder in München, den auch ihre Mutter mitgestaltet. Und sie hätte mit Begeisterung mitgetanzt, in der von Narissam Ismailova geleiteten Gruppe, die lange geübt hat für die anberaumten und abgesagten Noruz-Feierlichkeiten. Ihr ganz neues, großartiges Kostüm dafür hat ihre Mutter noch rechtzeitig über kasachische Kanäle bekommen. Allein denn: Abgesagt. Aber zuhause wird sie sich darin zeigen, am Fenster oder auf dem Balkon und im Video-Chat mit ihren Freunden in München und der Welt. Und lauthals den Song mitsingen, der auch jetzt im Tengri-Tagh auf YouTube in Dauerschleife über die Bildschirme flimmert: Arthur Ilakhunovs „Kök Böre Biz“, den Unabhängigkeitsgesang der „Blauen Wölfe“.

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