Nach 12 oder 13 Jahren Schulbankdrücken stehen fast alle Abiturient*innen ziemlich ratlos da: Schreiben wir nun oder schreiben wir nicht? Wie ist das für junge Menschen, die nun daheim ohne Schule, Lehrer, Freunde und Unterricht lernen?
Bavaria first – dann folgen die anderen
Derzeit sitzen ungefähr 350.000 AbiturientInnen verteilt auf 16 Bundesländer zuhause und warten auf ein Hopp oder Topp. Vorausgegangen waren Schulschließungen: Bayern machte den Anfang, Baden-Württemberg folgte wenig später. Mit dem 16. März war dann überall Schluss. Einige Schulen wurden wegen Corona-Verdachtsfällen sogar noch früher geschlossen. So ist Paul, Abiturient auf dem Rupprecht Gymnasium in München schon seit dem 9. März zuhause. In Summe sind das 6 Wochen, bis er vielleicht wieder in die Schule kann, also beinahe der Zeitraum der Sommerferien. Er habe jetzt schon Schwierigkeiten, sich zu motivieren, mache zu wenig. „Alleine lernen ist schwer, keine Fragen stellen zu können.“ Bisher habe er nur 4 Stunden gelernt.
Nachschreiben – aber wann?
Dann der nächste harte Schnitt – wieder geht Bayern voraus: Obwohl sie als letzte dran sind, verschieben sie die Abiturprüfungen um 4 Wochen nach hinten, Baden-Württemberg folgt wenig später. Aber verschafft das wirklich Sicherheit? „In dieser Lage kann sich so ein Nachschreibtermin einfach in Luft auflösen. Das macht unsicher“, beschreibt Nils, Gymnasiast am Münchner Luise Schröder-Gymnasium seine Situation.
Auch für Alicia, ebenfalls am Rupprecht Gymnasium, ein seltsames Gefühl: „Das Abi war immer etwas Festes, auf das man seit der 5. Klasse hinarbeitet. Diese Ungewissheit nervt und macht gleichermaßen Angst.“ Ehrliche Worte.
„Nein, ich denke nicht, dass der Nachschreibtermin realistisch ist.“ Nikolaus vom Ludwigsgymnasium in München vertritt eine klare Position und begründet: „Die Folgen der Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung sind noch nicht klar. Wir stehen ja noch relativ am Anfang, also kann ich mir nicht vorstellen, dass die Schulen wieder öffnen, wenn die Fallzahlen in Deutschland weiter so schnell steigen.“
Glück gehabt oder dumm gelaufen – Hessen schreibt
Rheinland-Pfalz ist durch – auf jeden Fall Glück gehabt. Hessen hat beschlossen zu schreiben. Ist das nun unsolidarisch oder verständlich? Sind sie nun die Gewinner oder Verlierer? Nils´ Bruder Jan hat vor, das Fachabitur an der Fachoberschule in Karlsfeld zu absolvieren: „Man könnte es unverantwortlich in Zeiten von Ausgangssperren und Quarantäne nennen, aber die Gesundheitsbehörden scheinen die Gefahr der Ansteckung noch deutlich geringer zu sehen“.
Jule wohnt in der Baden-Württembergischen Kleinstadt Ellwangen. Dort besucht sie das Peutinger Gymnasium. Sie kann einerseits die Abiturient*innen sehr gut verstehen, die das Gelernte nun auch abrufen wollen, aber: „Man sollte sich voll und ganz auf die Prüfungen konzentrieren können. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass das momentan einfach nicht so möglich ist.“
Gleiche Chancen für alle
Macht es denn überhaupt Sinn, in einer solchen Krise den Föderalismus laufen zu lassen? „Ich finde, es sollte eine bundesweite Lösung erarbeitet werden, damit alle das Abi in der gleichen Zeit schreiben, um alle gleich zu behandeln“, wünscht sich Max aus Olching bei München. Er ist an einer Fachoberschule, die ohnehin erst Anfang Mai in die heiße Phase eintreten – noch. Ein komfortabler Puffer. Für ihn ist klar: Wer die Zeit zuhause nicht nutzt, um sich vorzubereiten, ist selber schuld. Doch dazu gehört einiges an mentaler Stärke und Selbstorganisation, da liegen bei anderen die Nerven eher blank.
Lernen in der Warteschleife
Wer gewohnt ist, den Großteil des Tages gemeinsam zu lernen und das Wissen daheim nur wenn nötig zu vertiefen, soll sich auf die bis dahin wichtigsten Prüfungen allein vorbereiten. Für die einen kein Problem – für viele andere eine immense nervliche Belastung. Jule hat ihre eigene Strategie entwickelt: „Ich versuche so gut es geht meinen Alltag aufrecht zu erhalten: Früh aufzustehen, um meine Schulaufgaben abzuarbeiten, wie eben in einer normalen Unterrichtswoche auch.“
Unsicherheit bestimmt den Tagesablauf
Unsicherheit ist der Begriff, der bei allen Befragten Schülern und Schülerinnen immer wieder fällt. Aber wie werden die jungen Menschen in ihrer Unsicherheit abgeholt? Keiner weiß mit Sicherheit, wie 12 Jahre Schule jetzt zu Ende gebracht werden.
Das Durchschnittsabitur – Schluss und rechnen
Deshalb ist nicht weiter verwunderlich, dass so viele Schüler*innen geradezu erleichtert an der kürzlich eingereichten Petition zweier Hamburger Schüler teilnehmen: das Durchschnittsabitur. Allein der Name facht die Diskussion an. Obwohl Alicia für ihr angepeiltes Jurastudium keinen NC braucht, steht sie derzeit auf 1,2. Dafür hat sie viel getan und wollte noch mehr. Trotzdem fehle ihr jetzt schon die Kraft, um ihr Abitur zu schreiben. Deshalb hat sie die Petition unterzeichnet. Abivorbereitungskurse, die sie gebucht hat, entfallen. Das von der Schule geschickte Pensum ist in 8 Stunden kaum abzuarbeiten, dennoch ist es die einzige „Normalität“, an sie sich derzeit klammere. Da Bayern nur Kontakt innerhalb der Familien erlaubt, kann sie auch ihren Freund nicht sehen – eine mentale Stütze, die beiden fehlt.
Das Notabitur – ein Rückblick
Auch für Nils fühlt sich das komisch an: „Man merkt auf jeden Fall, dass noch niemand anderes je in so einer Lage war“. Was streng genommen auch stimmt, allerdings gab es bereits zweimal in der Geschichte Deutschlands ein sogenanntes Notabitur, das man auch Kriegsabitur nennen könnte: Alle Oberprimaner (Klasse 13), die sich im August 1914 freiwillig zum Militärdienst melden, dürfen vorzeitig die Reifeprüfung ablegen – mündlich und im Schnellverfahren. Am 8. September 1939 wird das Notabitur für den Überfall auf Polen erneut eingeführt. Zunächst noch freiwillig wird es mit fortscheitendem Krieg mehr und mehr zur Pflicht. Als Hitler Ende 1941 Soldaten für die Russland-Front braucht, erhalten die Abiturienten schnell einen Reifevermerk. 1944 werden nur noch die Noten der drei vergangenen Jahre zusammengezogen. Weil das Notabitur aber nach Kriegsende nicht anerkannt wird, muss – wer aus dem Krieg zurückkommt – wieder ran und die schriftliche Abiturprüfung nachholen.
Einheitlichkeit – für den Moment
Um weiter an einer einheitlichen Linie festzuhalten, haben sich die Kultusminister am 26.3. für die Durchführung der Abiturprüfungen ausgesprochen. Mit dem eleganten Nachsatz, dass diese bis zum Ende des Schuljahres abzuhalten seien. Laut der Präsidentin der Kultusministerkonferenz und rheinland-pfälzischen Bildungsministerin, Stefanie Hubig „immer vorausgesetzt, dass dies aus Infektionsschutzgründen zulässig sei“.
Home Schooling – effektiv oder murks?
Ob Präsenzunterricht nun den Respekt vor dem Lehramt erhöht, man einfach nur genervt von der Faulheit des eigenen Nachwuchses ist oder ob das abzuarbeitende Pensum einem 9 Stunden Tag entspricht – Home Schooling hat viele Gesichter. Paul fängt jetzt erst richtig an, Max lernt 2 Stunden am Tag, Jule 4, Nils 5, Alicia bis zu 8. Auch wenn die Kommunikation mit den Lehrern gut funktioniere, in einem sind sich alle einig: Schule ist besser! „Ich lerne zwar, aber besonders effektiv ist das nicht. Nicht so wie im Präsenzunterricht“, findet Nikolaus und das ist der allgemeine Tenor.
Von Email über Mebis bis zum Online Unterricht mit Zoom und Skype – die Bandbreite der Kommunikation ist vielfältig. Wer diszipliniert und in der Lage ist, sich jeden morgen zu motivieren und vor allem: sich selbst und allein etwas „beizubringen“, hat es definitiv leichter dieser Tage. Und wenn es auch nicht für jeden das richtige ist, so ist es doch eine gute wenn auch frühe Vorbereitung auf das Studienleben.
Denn das ist ja, worauf die meisten in der Warteschleife hinarbeiten: ein Abitur als Abschluss der schulischen Laufbahn und als Einstieg in die Welt der Hochschulen und Universitäten.
Deshalb: Ruhe bitte, Abitur!
Ich wünsche allen Abiturient*innen 2020 gute Nerven und toi toi toi!
Vielen Dank an Paul, Alicia, Jule, Nikolaus, Nils, Jan und Max!
Beiträge in diesem Magazin:
April, April – Humor nur mit Mundschutz
Das Corona-Abi – Lernen in der Warteschleife
Willkommen in Deinem Mondjahr, Diana
Summ Bienchen Summ
Zur Autorin
Diana Scherer