Die evangelische Telefonseelsorge München leistet rund um die Uhr wertvolle Hilfe in allen Lebenslagen. Die Nachfrage bei der Telefonseelsorge ist in der Corona-Krise bundesweit um 50 Prozent gestiegen.
Herr Ellinger, Sie sind der Leiter der evangelischen Telefonseelsorge in München und haben mit den Nöten der Menschen zu tun. Wie sieht ihre alltägliche Arbeit aus?
Ich selbst sitze selten persönlich am Telefon. Dennoch erfahre ich im alltäglichen Gespräch mit den Ehrenamtlichen und in Supervisionen, was gerade los ist. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen bin ich operativ für die Organisation des Schichtbetriebs von 110 ehrenamtlichen Mitarbeitern zuständig. Außerdem planen wir die Fortbildungen, die Supervisionen und sind für das Finanzielle verantwortlich.
Welche Menschen sitzen bei Ihnen am Telefon?
Die Ehrenamtlichen sind zwischen 30 und 90 Jahre alt. Die meisten sind berufstätig, möchten neben ihrer beruflichen Tätigkeit noch etwas für sich persönlich Sinnvolles tun und sich dabei auch weiterbilden.
Dabei stammen unsere Seelsorger aus ganz unterschiedlichen Berufen. Sie sind Lehrer, Ärzte, Kaufleute, Hausfrauen oder Manager. Und auch einige, die aus dem Metier kommen, meist professionelle Coaches. Dennoch ist es auch für sie eine große Umstellung, Menschen am Telefon zu beraten.
Wie lange dauert ein Telefonat durchschnittlich?
Die Durchschnittszeit liegt momentan bei 25 Minuten. Das ist tatsächlich ein Virus, das sich nicht nur in die Körper, sondern auch in die Seelen der Menschen begeben hat.
Zum Stand vom 5. April waren in der Landeshauptstadt München 3.642 Menschen mit der Corona-Virus-Infektion gemeldet. 1.103 waren geheilt und 14 waren verstorben.
In Anbetracht dieser Situation: Wie erleben Sie und Ihre Telefonseelsorger die Ängste der Münchner Bürger?
Es geht mittlerweile in fast jedem Gespräch auch um Corona. Viele Menschen rufen an, weil sie wirklich besorgt sind. Es läuft ja auch fast nichts anderes mehr im Fernsehen und Radio. Alles ist Corona. Ich denke, seit dem Krieg hat kein anderes Ereignis unsere Gesellschaft so massiv und in voller Breite beeinflusst bis hinein in Wirtschaft und Kultur. Alles liegt lahm und da kommen viele Ängste hoch.
Wer ruft bei Ihnen an?
Einerseits sind es Menschen, die diese Situation speziell herausfordert: Etwa eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, deren Kinder sonst beschäftigt und untergebracht, aber jetzt zu Hause sind, weil die Schule ja nicht funktioniert. Die Mutter hat zwar keinen systemrelevanten Beruf, muss aber trotzdem arbeiten, ist selbstständig und kann kein Home-Office machen. Das ist so ein Fall, den ich im Gedächtnis habe. Andererseits tauchen auch ganz neue Probleme auf. Da gibt es ein Paar, das zusammenlebt, plötzlich machen beide Home-Office, sind jetzt viel mehr zusammen und geraten darüber in Streit. So etwas gibt es auch.
Es scheint so, als ob es in den Gesprächen um Fragen zu ganz praktischen Lösungsmöglichkeiten für den Alltag geht. Welche Antworten geben Sie den Menschen?
Die Menschen erwarten von uns keine Lösung dieser Probleme. Sie wissen, dass man in 25 Minuten ihre Probleme nicht lösen können wird. Aber den meisten tut es einfach mal gut, wenn da überhaupt jemand ist und zuhört. Jemand, der Zeit für einen hat, versucht zu verstehen. Man kann etwas von dem, was man mit sich herumträgt, abladen. Allein, dass man erzählen kann und Verständnis spürt, tut den Menschen unheimlich gut. Die Erfahrung, dass man seine Not mit jemandem teilen kann. Seelsorge heißt nicht, wir können alles ändern und haben für alles eine Lösung, sondern wir halten das, was momentan ist, mit Ihnen aus.
Zuhören ist das Wichtigste?
Genau. Zuhören und zumindest nach dem nächsten Schritt schauen. Was wäre der nächste Schritt, um die Situation zu erleichtern, was würde Ihnen jetzt guttun? Bring mal Struktur in deinen Alltag, lass dich nicht hängen, schlaf nicht aus bis morgens um zehn, sondern steh um halb acht auf und mach dir einen Kaffee. Das ist wichtig, weil die Leute die Struktur für einen Tagesablauf verlieren. Wir werden häufig von Leuten angerufen, die schon belastet sind und da kommt jetzt noch Corona oben drauf. Man kann fast sagen, dass sich Corona auf die Seele ähnlich auswirkt wie auf den Körper.
Körperlich ist es ja auch so, wenn jemand vorbelastet ist, gehört er zu einer Risikogruppe, und seelisch ist es ähnlich. Zu uns kommen seelisch kranke Menschen mit Depressionen, mit Panikattacken oder Angststörungen. Menschen, die in psychiatrischer Behandlung sind oder waren, für die wir im Alltag ein wichtiges Gegenüber sind, weil wir sie einfach stützen. Vor allem am Wochenende und nachts, wenn keine Klinik offen hat, der Arzt oder Therapeut nicht erreichbar ist, dann können wir stützen.
Wenn Sie die aktuelle Situation, die geprägt ist durch das Corona-Virus, mit denen in der Vergangenheit vergleichen, etwa mit der SARS-Epidemie oder BSE: Wie unterscheidet sich die Lage heute von damals?
Ich bin noch nicht so lange bei der Telefonseelsorge, um direkt vergleichen zu können, aber es ist immer so, dass Krisen in der Gesellschaft bei uns in der Telefonseelsorge auftauchen. Das letzte Mal gab es das in größerem Ausmaß während der Flüchtlingskrise in 2015. Da ging es bei einem Viertel der Anrufe um das Thema Flüchtlinge. Was aktuell gerade an Ängsten durch die Gegend geistert, spiegelt sich auch bei uns wider. Aber es war wirklich noch nie so schlimm, so generalisiert wie seit Corona. Und das geht nicht nur uns so, sondern ist bundesweit der Trend. Wir haben 105 Telefonseelsorgestellen in ganz Deutschland und führen jedes Jahr rund eine Million Seelsorgegespräche. In den letzten zwei Wochen gingen die Anrufe um 50 Prozent nach oben. Alle Stellen haben ihre Kapazitäten erhöht. Wir sind jetzt tagsüber immer doppelt besetzt und führen statt 50 Gesprächen am Tag 70 bis 75.
Laufen die eine Million Anrufe bundesweit bei den evangelischen Beratungszentren auf?
Nein, das sind die bei der evangelischen und katholischen Telefonseelsorge zusammen.
Sie tauschen sich mit den Kollegen der anderen Glaubensgemeinschaft aus?
Wir arbeiten sehr eng zusammen im Alltag. Wir haben die gleiche Telefonnummer. Wenn bei den evangelischen Telefonseelsorgen die Leitung besetzt ist, leitet die Telekom Anrufende automatisch zu den Katholiken und umgekehrt.
Welchen Anteil an der telefonischen Seelsorge haben die evangelische und katholische Seelsorge bundesweit?
In Zahlen weiß ich es nicht. Unsere Telefonseelsorge war die erste ihrer Art vor über 60 Jahren. Wir waren die ersten, die telefonische Hilfe anboten. Damals hatten vielleicht zehn Prozent der Leute einen Festnetzanschluss. Das war etwas ganz Innovatives. Der Ursprung war die Suizidprävention. Im Laufe der Zeit haben sich inzwischen für jedes Thema Spezialisten entwickelt.
Es gibt jetzt eine Suizid-Hotline in München, die sich Arche nennt. Es gibt eine Sucht-Hotline, eine Drogen-Hotline sowie den Frauen-Notruf. Die Seelsorger haben sich sozusagen spezialisiert, und unsere Telefonseelsorge, die ist weitgehend geblieben, wie sie ist. Sozusagen der große Gemischtwarenladen.
Es gibt bei uns kein Thema, mit dem man nicht zu uns kommen kann. Dabei arbeiten wir konsequent anonym, was bei vielen anderen Stellen nicht der Fall ist. Bei uns muss man nicht sagen, wie man heißt. Es erscheint auch keine Telefonnummer im Display und auf dem Einzelverbindungsnachweis des Anrufers steht auch nicht, dass er bei der Telefonseelsorge angerufen hat. Unsere Telefonseelsorger bleiben ebenfalls anonym. Sie nennen nicht ihren richtigen Namen.
Und was bei uns noch dazu kommt: Unser Angebot kostet nichts und wir sind rund um die Uhr da, an 365 Tagen im Jahr. Das bietet natürlich Verlässlichkeit. Andere Anbieter haben oft ihre Geschäftszeiten von acht Uhr früh bis sechs Uhr nachmittags oder so und sind nachts meistens nicht erreichbar. In dieser Hinsicht sind wir schon etwas Besonderes.
Was tun Ihre ehrenamtlichen Mitarbeiter, um selbst auszuspannen und Abstand zu gewinnen?
Die Mitarbeiter durchlaufen eine neunmonatige Ausbildung. Darin geht es um Gesprächsführung, systemische, lösungsorientierte Seelsorge und Methoden. Es geht um bestimmte Themen, die am Telefon besonders häufig auftauchen. Wir achten sehr darauf, dass sich die Ehrenamtlichen nicht überfordern und dass sie immer Gelegenheit haben, nach einem belastenden Gespräch dies sofort wieder loszuwerden: Sie wenden sich an uns als Supervisor und führen ein Gespräch. Außerdem haben wir den Selbstschutz institutionalisiert. Es gibt Gruppen, in denen sich die Ehrenamtlichen einmal im Monat treffen und sich dort über ihre Gespräche untereinander austauschen. Und es gibt Gruppen mit externen, ausgebildeten Supervisoren.
Ehrenamtliche Mitarbeiter lernen sicherlich selbst auch für sich viel dazu?
Ja unbedingt. Wir haben Ehrenamtliche, die schon über 40 Jahre dabei sind und sagen, dass sie immer noch dazulernen.
Besteht bei Ihnen Bedarf an zusätzlicher Hilfe aufgrund der aktuellen Situation? Wie können sich Menschen, die helfen wollen, einbringen?
Uns erreichen momentan viele Mails, in denen Menschen ihre Hilfe anbieten, auch ausgebildete Personen. Wir sind sehr dankbar dafür, aber im Moment wissen wir nicht, wie wir sie einsetzen sollen. Unsere Ehrenamtlichen sind wahnsinnig fleißig und eifrig. Aber es kann sein, wenn sich die Corona-Krise jetzt noch hinzieht, Ehrenamtliche sich infizieren und den Dienst nicht mehr übernehmen können, dass wir dann auf diese Angebote zurückgreifen. Wir sammeln die Anfragen und überlegen uns gerade, wie wir diese Freiwilligen vielleicht über eine eigene Telefonnummer einbinden können.
Was wollen Sie sonst noch gerne unseren Lesern mitteilen?
Dass man nicht nur in Krisenzeiten an die Menschen in den Pflegeberufen denkt und ihnen dann applaudiert, so schön das ist, sondern dass man die auch schon vorher und nachher wertschätzt und sie nicht aushungern lässt, auch finanziell.
Dass wir längerfristig gesehen sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft erkennen, was wirklich wichtig ist. Dies ist mein großer Wunsch. Welche Dienste sind für die Menschen wichtig, vor allem dann, wenn es mal hart auf hart kommt?
Herr Hellinger, ich danke Ihnen für Ihre Zeit und das Gespräch.
Zur Person:
Norbert Ellinger leitet die Evangelische TelefonSeelsorge München seit März 2015. Zuvor betreute der verheiratete Vater von fünf Kindern vier Jahre lang Studierende als Studienleiter und war zwölf Jahre Gemeindepfarrer in München-Freimann. Ebenfalls als Gemeindepfarrer war Ellinger, der unter anderem in Tübingen und São Paulo Theologie studierte, in Rio de Janeiro tätig. Er ist zertifizierter Onlineberater mit mehrjährigen Zusatzausbildungen in Klientenzentrierter Gesprächsführung, Kommunikationspsychologie, Geistlicher Begleitung, Systemischer Seelsorge und Supervision.