Algorithmen, die durch maschinelles Lernen ständig besser werden, verändern unsere Welt. Sprach- und Gesichtserkennung sind Alltag. Die Mensch – Maschine Kommunikation wird immer besser. Begegnen wir bald denkenden Maschinen?
120 Seiten sind nicht viel für ein anspruchsvolles Buch über ein derart komplexes Thema. Deshalb ist es für den Leser sehr erfreulich, dass es der Autorin gelungen ist, viele unterschiedliche Aspekte der Künstlichen Intelligenz (KI) in einer leicht lesbaren und verständlich formulierten Darstellung vorzulegen. Als promovierte Philosophin und Wissenschaftsjournalistin beschäftigt sich Manuela Lenzen seit langem mit Fragen zur KI und den Naturwissenschaften an der Grenze zur Philosophie. Dies ist Grund dafür, dass es im Buch nicht nur um Details der Informatik geht, sondern vielmehr um die grundlegenden Fragestellungen, mit denen uns die Entwicklung von KI Systemen konfrontiert: Was ist überhaupt Intelligenz? Gibt es ein künstliches Bewusstsein? Lässt sich Kreativität künstlich erzeugen? Wer kontrolliert die Entwicklung von KI, definiert und überwacht in Grenzbereichen die moralische und ethische Verwendung?
Zum Inhalt:
Was besorgte Leser beruhigen wird, ist die simple Tatsache, dass vieles, was häufig als künstliche Intelligenz bezeichnet wird, lediglich die Anwendung von Entscheidungsunterstützungssystemen beschreibt, die auf Basis einfacher und komplexer Algorithmen spezifische Probleme lösen. Dazu gehört, die bestmöglichen Suchergebnisse im Internet auf eine Frage zu erhalten. Computerspiele verwenden Algorithmen, um entweder den Spieler mit Hilfe hoher Rechenpower zu schlagen oder komplexe Spielvarianten zu generieren. Dabei ist das Ziel dieser Algorithmen, die kognitiven, menschlichen Prozesse durch Computer und Softwareprogramme als automatisierte Berechnungsprozesse effektiver und schneller nachzubilden. Erst wenn diese Programme selbstständig lernen, sich zu verbessern, kann man von intelligenten Systemen oder Algorithmen sprechen.
Die interdisziplinäre Forschung ist mit ihren Bemühungen weit vorangeschritten und überrascht uns immer wieder mit unerwarteten Ergebnissen. So sind Spracherkennungssysteme erfolgreich in unserem Alltag etabliert und werden durch assistiertes Lernen immer besser. Solche Systeme, die für einen bestimmten Anwendungszweck entwickelt wurden, eignen sich nicht dazu, völlig andere Aufgaben zu lösen. Um für eine optimierte Logistik zu sorgen sind sie nicht programmiert. Ihnen fehlt die Intelligenz, die es ihnen erlauben würde, dies selbstständig zu tun. Diese Einschränkung gilt für alle als intelligent erscheinenden Systeme: Sie bleiben in ihrer Box.
Menschliches Lernen ist einzigartig
Überhaupt bleibe die Frage, was Intelligenz sei, unbeantwortet, so die Autorin. Unter den Spezialisten gäbe es lediglich einen Konsens darüber, dass Intelligenz mit dem Anpassungsvermögen an veränderte Anforderungen, mit Flexibilität und Lernen, zusammenhinge. Aus diesem Grund sind neuere Programme selbstlernende Anwendungen. Dafür gibt es unterschiedliche Ansätze. Am weitesten fortgeschritten gilt aktuell das “Deep Learning”, eine Methode des maschinellen Lernens auf Basis von künstlichen Neuronalen Netzen (KNN). Vorbedingung für alle lernenden und somit intelligenten Systeme sind die Digitalisierung sowie die Verfügbarkeit von großen Datenmengen (Big Data), die den Input für selbstlernende Algorithmen liefern. Dabei ist zu beachten, dass selbstlernend die Optimierung, also die Verbesserung (weniger Fehler, schneller) des Algorithmus bedeutet. Die Beschränkung aller lernenden Systeme liegt darin, dass Algorithmen anders als Menschen lernen und die Forschung (noch) nicht soweit ist, die Erkenntnisse der Neuro- und Kognitionswissenschaften über das menschliche Gehirn und Denken für die künstliche Intelligenz zu nutzen. Insbesondere die Aspekte menschlichen Denkens, unsere evolutionäre Entwicklung sowie die Tatsache, dass Menschen in einem Körper und in einer natürlichen Umwelt leben, machen den grundlegenden Unterschied. Denn diese Aspekte sind für die Ausbildung von Intelligenz und eines Bewusstseins notwendig und machen uns Menschen einzigartig und komplex zugleich. Der Versuch, künstliche Intelligenz menschlichen Maßstabs mit Hilfe von – und für Maschinen – zu schaffen, bleibe damit ein äußerst schwieriges Unterfangen, meint Manuela Lenzen.
Die Frage, ob es überhaupt wünschenswert sei, ein künstliches System mit einem menschlichen Bewusstsein zu schaffen, rührt an grundsätzliche philosophische und ethische Fragen, welche die Autorin aufgreift und hinterfragt. Eine davon betrifft die Entscheidung über Leben und Tod, die künstliche, intelligente Systeme in zunehmendem Maße treffen müssen, wenn sie in einem solchen Kontext eingesetzt werden. Dies betrifft etwa autonomes Fahren. Wer soll bei einem unvermeidbaren Unfall geopfert werden? Oder beim Einsatz von Drohnen: Wer entscheidet, wann und wer getötet werden soll?
Intelligente Maschinen werfen moralische Fragen auf
Maschinen ohne Bewusstsein kennen keine Moral oder den Unterschied zwischen Gut und Böse. Bei diesen Fragestellungen beginnt die ethische Diskussion um die KI. Als Philosophin bezieht Manuela Lenzen dabei eine eindeutige Position: “Nur der Mensch kann moralisch handeln. Moralische Entscheidungen an eine Maschine zu delegieren ist ein Kategorienfehler.” Und trotz dieser kategorischen Bedenken weist die Autorin auf die Vorteile intelligenter Systeme etwa in der Forschung und insbesondere der Medizin hin. Dort unterstützen diese Programme höchst effektiv Ärzte bei der Diagnose. Kein Mensch kann so viele Studien und Daten auswerten wie ein Computer mit seinem speziellen Algorithmus. Deshalb gibt es fast keinen Bereich und keine Industrie mehr, die nicht auf die Hilfe von mehr oder minder intelligenten Systemen setzt. Diese sind per se auch nicht gut oder schlecht, solange sie nicht selbstständig entscheiden können, ob sie das sein wollen und müssen. Und eben Letzteres sollten wir nicht unkontrollierten Systemen überlassen.
Das Resümé von Manuela Lenzen ist für den besorgten Leser beruhigend: Eine künstliche Intelligenz von Maschinen Ist derzeit nicht auf dem Markt verfügbar. Jedoch sollte uns das nicht in Sicherheit wiegen, denn Forschung und Entwicklung gehen natürlich weiter.
Das Buch ist jedem zu empfehlen, der künstliche Intelligenz verstehen will, um sachlich an der öffentlichen geführten Diskussion teilnehmen zu können. Es vermittelt Grundwissen und hilft dabei, das Augenmerk auf die kritischen Fragen zu lenken, die sich aus dem immer häufigeren Einsatz komplexer Entscheidungssysteme ergeben. Wir Bürger sind dabei aufgefordert, kritisch und wachsam zu bleiben gegenüber Entwicklungen und Entscheidern, die Algorithmen und Programme ungefragt, unkontrolliert und zu unser aller Nachteil einsetzen wollen.
Manuela Lenzen; Künstliche Intelligenz Fakten, Chancen, Risiken; Erschienen bei C.H. Beck; 2020