Wenn in der Rushhour bei der Münchner S-Bahn Zusatzzüge eingesetzt werden, sind sie da, die Eisenbahn-Fans. Henny und Felix sind beste Freunde und Trainspotter. Sobald sie mit ihren Kameras unterwegs sind, ist kein Zug vor ihnen sicher.
Freitag, 13 Uhr, an der Bahnhaltestelle Leienfelsstraße in München. Es sind Schulfreien in Bayern. Die Haltestelle ist menschenleer und die Luft warm. Grillen zirpen in der Wiese, Vögel zwitschern in den Bäumen. Die Trainspotter legen ihre Taschen ab. Felix setzt sich auf den Boden, der von der Sonne aufgewärmt ist, und holt die Kamera aus der Tasche. Mit dem linken Auge schaut der 17-Jährige durch den Sucher und knipst Probefotos. Henny, 16, inspiziert ruhig die Gegend. „Heute versuchen wir die alte S-Bahn-Baureihe 420 vor die Linse zu bekommen“, sagt er. Die Züge seien besser unter dem Namen „Olympia-Bahn“ bekannt. So wurden sie nach ihrem Ersteinsatz 1972 genannt.
Züge festhalten
Trainspotting ist ein englischer Begriff und bedeutet „Züge orten, beobachten“. Felix nennt es „festhalten“. Trainspotter kennen die Fahrpläne der Bahngesellschaft und wissen, welche Zugmodelle auf welchen Strecken eingesetzt werden. Ausgestattet mit Fotokameras, spotten sie Lokomotiven und Waggons, dokumentieren deren Kennzeichen und besondere Lackierung. Oft können sie verschiedene Zugmodelle anhand ihres Klangs unterscheiden.
Ein eingespieltes Team
Viel Vorbereitungszeit bleibt den beiden Freunden nicht. Nach drei Minuten, rollen schon die ersten Motive ein. Ein weißer mit rot-gelben Elementen lackierter Zug kommt der Bahnhaltestelle immer näher. Es ist die Schweizer Eisenbahn, das erkennen die Spotter an der Lackierung der Waggons sofort. „Oh nein, das schaffe ich nicht“, ruft Henny und zieht seine Kamera hektisch aus der Tasche. „Setz die Sonnenblende auf“, sagt Felix. Er steht und richtet seine Kamera auf den Zug. Das Geratter der vorbeifahrenden Waggons mischt sich mit den Klick-Geräuschen der Auslöser. Sie sind ein eingespieltes Team und unzertrennlich. Die beiden Jungs teilen nicht nur das Hobby, sie gehen auch auf die gleiche Schule.
Niemand von der Familie ist Eisenbahner…
Wie das alles anfing? „Ich bin mit meinen Großeltern viel Zug gefahren“, sagt Felix – da war er 5 Jahre alt. Mit 14 bekam er seine erste Fotokamera und begann, die Züge zu fotografieren. Henny war schon immer begeistert von Bahn. „Niemand von der Familie ist Eisenbahner, aber als kleiner Junge habe ich Spielzeugfahrzeuge genommen und beim Spielen die S-Bahnstationen angesagt“, sagt Henny. Die Jungs sammeln Zugfotos wie andere Fußballkarten oder Briefmarken. In der Szene sind sie gut vernetzt. Lokführer und Auszubildende der Deutschen Bahn geben ihnen Tipps, wo besondere Züge fahren und sie sind Teil der Trainspotter-Community. Henny studiert die Fahrpläne und bereitet die Spotting-Ausflüge vor. Felix ist der Kameraexperte, er kennt sich mit den Einstellungen aus und gibt seinem Freund Techniktipps beim Fotografieren.
Wo alles begann
Den Ursprung hat das Spotten in England. Im Zweiten Weltkrieg rief die britische Regierung die Zivilbevölkerung dazu auf, das Militär durch gezielte Informationen über die feindlichen Flugbewegungen zu unterstützen. Die Einwohner sollten die Richtung, Maschinentyp und die Anzahl der deutschen Militärmaschinen, die über englische Städte flogen, notieren. Später entwickelte sich daraus ein Hobby, Trainspotter, Shipspotter, Planespotter und Carspotter wurden geboren. Bis heute kann man auf den Bahnhöfen in England Männer in Anoraks mit Notizbüchern und Fernglas in den Händen beobachten.
Instagram-Liebe statt Hypes um die Likes
Doch von dem Bild des klassischen Spotters im Anorak sind die Münchener Schüler in ihren Jeans und T-Shirts, weit entfernt – und das nicht nur äußerlich. Sie dokumentieren ihre Arbeit auf Flickr und Instagram, tauschen sich mit Spotterfreunden in den sozialen Medien aus. Den Spottern geht es um die Gemeinschaft und den Dialog mit anderen Gleichgesinnten und ihr Hobby hat eine weitere starke soziale Komponente. Gemeinsam haben sie die Instagram-Gruppe „Trainspotter gegen Mobbing“ gegründet, denn Spotting gilt unter den Jugendlichen nicht gerade als das coolste Hobby. Ein ernsthafter Vorfall bestärkte die beiden Freunde in ihrem Engagement. Kurz vor Weihnachten 2016 verhindert Felix eine Tragödie. Er chattet mit einem Jungen aus Koblenz, der in der Schule gemobbt wird. Als Felix die Worte seines Chatfreundes „Ich will einfach nur sterben“ liest, erkennt er den Ernst der Lage und alarmiert sofort die Polizei. So rettet er dem suizidgefährdeten Jungen das Leben.
…wir können uns gegenseitig inspirieren…
Seit dem Vorfall sind Felix und Henny in ihrer Instagram-Gruppe noch aktiver. Sie wählen regelmäßig die besten Bilder anderer Spotter und publizieren sie auf ihrer Instagram-Seite. Darunter immer der Slogan: „Bitte besucht seine/ihre Instagram-Seite und hinterlasst ein bisschen Instagram-Liebe!“ So unterstützen sie viele noch unbekannte Trainspotter. Eine solidarische Geste, die dem Wettbewerbstrend auf Instagram entgegengesetzt ist. „Jeder von uns macht ein anderes Foto und wir können uns gegenseitig inspirieren und voneinander lernen“, sagt Felix. Damit kritisiert er die wachsende Konkurrenz unter den Spottern und den Hype um Likes.
Das perfekte Foto
Aus der Ferne nähert sich der Haltestelle Leienfelsstraße ein roter Regionalzug. Die jungen Spotter nehmen schnell ihre Positionen an. Felix legt sich auf den Boden und stützt sich mit den Händen ab. Mit dem Finger auf dem Auslöser wartet er auf den perfekten Shot. Henny geht einen Schritt zurück und versucht, den Zug in der Flucht zu fotografieren. Ein lautes Hupen gefolgt von Geratter und metallisch quietschendem Kreischen betäubt die Ohren. Nach zwanzig Sekunden ist es schon wieder vorbei. „Das war ein Makro, ein Warnsignal“, sagt Henny. Das laute Hupen war zusammen mit dem Lichtsignal diesmal ein Gruß an die Spotter.
Faszination Züge
“Mich fasziniert beim Trainspotting vor allem das Linienmanagement, also mit welchem Einsatz Züge von A nach B kommen.“, sagt Henny. Felix ist fasziniert davon, wie mit einer Lok Hunderte Tonnen transportiert werden können. Gemeinsam spotten die beiden Freunde vor allem im Raum München. „Was die besten Spottingplätze sind, lässt sich schwer sagen“, sagt Felix. Denn die Auswahl sei individuell und eher eine Frage des Stils und des Geschmacks. Aber der populärste Punkt unter Münchner Spottern ist die S-Bahnhaltestelle Hackerbrücke. Das ist ein Knotenpunkt für Personen- und Güterzüge.
Die unerwarteten Glücksmomente
Das sehnsüchtig erwartete S-Bahnmodell 420, das um 15.40 als S4 eingesetzt werden sollte, haben die zwei Freunde am Freitagnachmittag nicht gespottet. Doch es gab an dem Tag ein anderes Highlight. Eine alte, einsame Lok, mit einer seltenen beige-braunen Lackierung. „Das sind die unerwarteten Glücksmomente“, sagt Felix. Auf dem Weg nach Hause sitzen die zwei Freunde in einer S-Bahn nebeneinander. Henny hält die Kamera in der linken Hand, scrollt mit dem Finger der Rechten am Einstellrad, bis das Bild mit der alten Lokomotive auf dem Kamerabildschirm erscheint. Er beugt sich rüber zu Felix, der in seinem Handy nach ähnlichen Bildern im Netz recherchiert. Eine Lokomotive dieser Baureihe kennen die Spotter noch nicht.
Fotos auf dieser Seite: Hendrik Hoffmann, Felix Hayler