Gesucht: Sinn des Lebens

Eine Reportage von Simone Zahn

Mädelsrunde, neulich beim Italiener. Eine Freundin erzählt, dass ein Kollege sie gefragt hat, ob sie eigentlich Mann und Kinder habe. Sie verneint. Er schaut sie mitleidig an: Was hast du dann im Leben?

Die eben noch so fröhliche Runde verstummt. Dann fallen wir kollektiv über den unsensiblen Kollegen her. Schimpfen ist besser als Schmerz. Aber hat er nicht Recht? Brauchen wir nicht genau das, um glücklich zu sein – Mann, Kind, Job? Warum lassen wir uns dann scheiden, nehmen eine Auszeit vom Job und atmen auf, wenn die Kinder aus dem Haus sind? Was bleibt übrig, wenn Fortpflanzung, Liebe oder Job nicht mehr greifen und ja, was ist überhaupt noch der Sinn unseres Lebens? Die Frage ist so alt wie die Menschheit selbst. Ich will endlich eine Antwort und treffe mich mit zwei Menschen, die es wissen sollten: Dr. med. Wolf Büntig, Psychologe und Gründer eines Seminarhauses zur Selbstentfaltung, und seine Kollegin Bunda S. Watermeier, die für das Programm des Instituts verantwortlich ist.

Das ZIST liegt idyllisch zwischen Wald und Wiese.

Das Seminarhaus liegt idyllisch im bayerischen Voralpenland (Foto: Simone Zahn)

Penzberg. Der kleine Ort ist nur eine halbe Autostunde von München entfernt, doch es kommt mir wie eine andere Welt vor. Ruhe, Natur, Postkartenidylle pur. Sanfte Hügel fügen sich harmonisch in die stattlichen Voralpen dahinter. Wo lässt es sich besser über den Sinn sinnieren als an diesem friedlichen Ort? Fünf Minuten später treffe ich meine Gesprächspartner – Dr. med. Wolf Büntig (79) und seine Kollegin Bunda S. Watermeier (52). Gemeinsam mit seiner damaligen Frau Christa hat der Arzt und Psychologe das Seminarzentrum ZIST vor über 40 Jahren gegründet. Sie wollten damit einen Ort für menschliches Wachstum schaffen, den es so im Deutschland der 70er Jahre noch nicht gab. ZIST bietet mit gut 80 Referenten und Referentinnen jährlich über 100 Veranstaltungen an, die so viel versprechende Namen tragen wie „Glücklich sein kann man lernen“, „Intuition und innere Führung“, „Reise zu dir selbst“.

Sinn – oder nicht Sinn

Herr Büntig ist Leiter des Seminarzentrums ZIST.

Herr Büntig ist Leiter des Seminarzentrums ZIST (Foto: Simone Zahn)

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Bunda S. Watermeier gestaltet das Programm von ZIST (Foto: BW)

Auf dem Weg zum Büro zeigt mir Wolf Büntig das weitläufige Gelände. Hier stand früher der Rohbau eines Aussiedlerhofs, in dem Bullen gemästet werden sollten. Heute liegen hier keine Tiere mehr an der Kette. Im Gegenteil. Das Ziel der Arbeit von ZIST ist „die Entfaltung des menschlichen Potentials zu einem erfüllten Menschsein“. Oder anders ausgedrückt: Hier werden Menschen von ihren emotionalen Fesseln befreit. Die Teilnehmer, die mir begegnen, wirken tatsächlich entspannt und auch Herr Büntig und Frau Watermeier machen einen angenehm gelösten Eindruck. Ich freue mich auf unser Gespräch und lege los. Also, Herr Büntig, was ist der Sinn unseres Lebens? „Den gibt es nicht“, sagt er und lächelt. Schweigen. Kommt da noch was? Scheinbar nicht. Irritation. Immerhin hatten wir das Thema im Vorfeld besprochen. Natürlich bin ich davon ausgegangen, dass mir der Gründer eines Seminarhauses für Selbsterfahrung diese Frage beantworten kann. Naiv? Vielleicht. Seine Kollegin Bunda S. Watermeier lenkt ein: „Ich war früher auch der Ansicht, dass ich beispielsweise fünf Kinder kriegen muss, damit mein Leben einen Sinn hat. Beim Unterwegssein hab ich aber gemerkt, dass das Leben an sich vielleicht Sinn genug ist – also das Dasein als solches“. Klingt schön, irgendwie versöhnlich. Doch bevor ich es mir in dieser Antwort allzu gemütlich machen kann, fährt Wolf Büntig fort: „Oder wir gestalten es so, dass es absolut absurd wirkt. Nehmen wir zum Beispiel Donald Trump. Wofür ist dieser Mensch gut? Ich hab keine Ahnung, was ich dadurch lernen soll. Ich weiß auch nicht, wofür es gut sein soll, dass wir den Rest der Welt mit radikalem Kapitalismus zerstören“.

Funktionieren – funktioniert nicht

Die Frage nach dem Sinn stellt sich, laut Büntig, überhaupt erst im „Bewusstsein der Absurdität“. Das heißt, wenn wir keine Erklärungen mehr für die Geschehnisse in der Welt haben. Wenn Aggression, Zerstörung und Hass uns einfach nur noch Angst machen. Oder – auf den Einzelnen herunter gebrochen – unser eigenes Leben aus den Fugen gerät. Viele Teilnehmer kommen, weil sie unter Depressionen oder einem Burnout leiden, weil sie überfordert sind, erklärt Frau Watermeier. „Viele sind alle“, stellt Büntig nüchtern fest. Die Zahl der Teilnehmer wächst ständig und sie werden immer jünger, vor allem die Menschen, die zur ZIST Akademie kommen, um hier humanistische Psychologie zu studieren. Sie merken schon sehr früh, dass „Funktionieren nicht mehr funktioniert“ und wollen verstehen, „was sie da eigentlich treiben, dass sie so in die Enge“ gekommen sind. Diese Enge zu begreifen, aus ihr heraus zu kommen und zu wissen, wo es danach hingeht – das sei für mich genau das, was man allgemein als Sinnsuche bezeichnet, entgegne ich. Kommen die vielen Menschen nicht genau deshalb hierher? „Nein“, antwortet Büntig knapp, „sie wollen ihren Kopfschmerz loswerden oder ihre Frau oder ihr Magengeschwür oder ihren Chef. Sie suchen nichts. Sie kommen, weil sie etwas haben und der gute Arzt fragt, was fehlt Ihnen denn?“

Vorstellungen – loslassen

Eine Skulptur im Garten von ZIST (Foto: Simone Zahn)

Eine Skulptur im Garten von ZIST (Foto: Simone Zahn)

Der Sinn, wäre meine Antwort. Ich behalte sie für mich, schaue ratlos auf meinen Block. Noch so viele Fragen, die aber alle keinen Sinn mehr machen. Vielleicht stimmt es, dass wir hier an der „Grenze von Sprache und Kommunikation“ angelangt sind, wie Frau Watermeier anmerkt. Eine höfliche Form von „wir reden aneinander vorbei“, denke ich mir. Schlimmer kann es in einem Interview nicht kommen. Mein wohl überlegtes Konzept? Geschenkt. Als ob er meine Gedanken lesen könnte, unterbricht Wolf Büntig die Stille: „Ich war fest entschlossen, Ihr Konzept auf dem Papier auseinander zu nehmen und es rührt mich, dass zwischen uns Dreien ein Gespräch passiert, das Konzepte transzendiert“. Er lächelt versöhnlich. Ich spüre, dass er es auch so meint. Trotzdem ist mir diese Aussage zu abstrakt. Mein Gegenüber bemüht einen, wie er selber sagt, „schlüpfrigen“ Vergleich: „Seitdem in Büchern über den Orgasmus geschrieben wird, wird er immer seltener. Das heißt, die Vorstellung von irgendetwas wie es sein soll, macht es unmöglich, es zu finden“. Oder anders ausgedrückt: Viele träumen von der großen Liebe, die á la Hollywood mit einem spektakulären Knall daherkommt. Fragt man allerdings Paare, wie sie sich kennen gelernt haben, fallen zwei Dinge auf: Erstens, war es selten ein einziger Augenblick, sondern vielmehr kleine Momente, in denen Liebe entstanden ist. Und zweitens, haben etliche genau in diesem Augenblick gar nicht an die Liebe gedacht. Will sagen, sie hatten den Plan, die Absicht, die Vorstellung davon losgelassen und genau deshalb ist es passiert.

Finden – ohne Suchen

Finden wir demnach erst, wenn wir aufhören zu suchen? Klingt irgendwie widersinnig. Doch meine Gesprächspartner bestätigen genau das. „Was mich an dem Begriff des Suchens stört“, so Wolf Büntig, „ist, dass es den Sinn objektiviert, verdinglicht und zu einem habbaren, erreichbaren Ding macht“. Mir drängt sich eine archaische Assoziation auf. Gott. Schon im Alten Testament wird uns gesagt, dass wir uns kein Abbild von Gott machen sollen. Wir sollen glauben, ohne Gott jemals gesehen zu haben, weil wir spüren, dass es ihn – oder zumindest eine höhere Instanz – gibt. Glaube und Sinn um seiner selbst willen? Eine feine Sache. Theoretisch betrachtet. Doch in der Realität strömen immer mehr Menschen in Selbsterfahrungskurse, leiden, obwohl es keiner Generation davor so gut ging, wie uns heute im Westen. Materiell gesehen. Emotional sind viele am Straucheln. Höflich ausgedrückt. Was fehlt uns also oder sind wir lediglich eine Bande verzogener Kinder, die sich in weltfremde Innenschau flüchtet? Natürlich ist Selbstfindung ein „Luxusphänomen“, so Wolf Büntig. Eine Inderin, die zum Billiglohn T-Shirts näht, „fragt nicht nach Sinn und Selbsterfahrung. Da ergibt sich der Sinn des Lebens aus dem Überlebenswillen und der Notwendigkeit, Kinder groß zu ziehen“.

Eine Skulptur im Garten des ZIST

Eine Skulptur im Garten von ZIST (Foto: Simone Zahn)

Instinkt – wiederentdecken

Trotzdem hat dieser Weg nach Innen seine Berechtigung. Er führt zu mehr Selbst-Bewusstsein, im wahren Sinn des Wortes. Der Mensch wird wieder „zu einem authentischen Wesen“, so Frau Watermeier, „und ist dadurch weniger manipulierbar“. Die Selbstfindung wird so vom reinen Selbstzweck befreit und bekommt eine „politische“ Dimension. Denn nur, wenn ich weiß, wer ich bin, kann ich sehen, wie die Welt wirklich ist und dementsprechend handeln. Schön und gut. Doch was ist dieses „Authentische“, das in jedem von uns schlummert? Das „inbildhafte Wissen“ antwortet Wolf Büntig und zitiert damit den spätmittelalterlichen Philosophen und Theologen Meister Eckhart. Die humanistischen Psychologen sprechen vom „menschlichen Potential“. „Instinkt“ oder „Inneres Wissen“ meinen dasselbe.

Gott – annehmen

Die Begriffe sind mir vertraut. Doch wo ist dieses natürliche innere Wissen hin und wieso haben wir es überhaupt verloren? „Anpassung an die Kultur“, lautet Wolf Büntigs einfache Antwort. Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nämlich verhältnismäßig lange von seinen Mitmenschen abhängig. Das sind zuerst die Eltern, später die Gesellschaft. Beide prägen uns, drücken uns – wenn man so will – ihren Stempel und ihre Vorstellungen von der Welt auf. Wobei wir wieder bei den Vorstellungen sind, die uns nicht weiter helfen. Aus reinem „Überlebenswillen“, so Büntig weiter, passen wir uns an diese Gegebenheiten an und vergessen darüber, wer wir ursprünglich einmal waren. Für mich klingt das irgendwie hoffnungslos. Meine Gesprächspartner werten diese Tatsache nicht. Sie nehmen es an, so wie es ist. „Buddha sagt: Leiden ist“, bemerkt Büntig ruhig und fährt fort: „ Es wäre vielleicht nützlich, so zu leben, dass man es nicht vermehrt. Aber es hat keinen Sinn zu sagen, der liebe Gott hätte es doch anders einrichten sollen“.

Der Eingang des ZIST

Der Innenhof des Seminarzentrums (Foto: Simone Zahn)

Türen – aufstoßen

Der Weg führt radikal nach Innen. Das begreife ich. Ein gefährliches Unterfangen. Denn dafür gibt es weder Landkarte noch Zielpunkt. „Wenn ich mich traue, diese Sicherheit von Konzepten zu verlassen“, liest Bunda S. Watermeier meine Gedanken, „dann gehen Türen auf“. Dahinter gibt es neue Wege, neue Einsichten und ganz sicher auch wieder neue Fragen. Aber es sind „meine eigenen Fragen“. Denn auf den „alten Trampelpfaden“, so Frau Watermeier, bewege ich mich wieder nur „relativ bewusstlos mit allen anderen“. „Meinen Weg“, fährt sie etwas nachdenklicher fort, „kann ich nur ganz alleine gehen“. Ihr Kollege widerspricht. Wir müssen diesen Weg „selber gehen, aber nicht alleine“, merkt Wolf Büntig an und das klingt für mich schon hoffnungsvoller. „Die kürzeste Zusammenfassung dieses Sachverhaltes ist von dem italienischen Dichter Salvatore Quasimodo“, schließt Wolf Büntig unser Gespräch: „Ein jeder steht alleine auf dem Herzen der Erde, durchdrungen von einem Sonnenstrahl, und plötzlich ist es Abend“.

Leben – hier und jetzt

Wir verabschieden uns und da stehe ich nun, vor dem Seminarhaus, mit meiner großen Frage und komme mir so klein vor. Ich fahre los, halte wenige hundert Meter später an. Vor mir liegt ein Moorsee. Kurz entschlossen springe ich hinein. Das kalte Wasser macht meinen Kopf wieder frei. Herrlich. Ich rieche das süßliche Moor, spüre die angenehme Kühle und meinen Körper. Mit jeder Schwimmbewegung wird er leichter. Der große Sinn? Keine Ahnung. Dieser Moment macht Sinn. Hier und jetzt. Punkt.