Nach dem Tod geschieht noch viel, bevor wir unter die Erde kommen. Eine dreiteilige Reportage über die letzten Wege vor der ewigen Ruhe.
Nicole Rinder öffnet die Tür. Wir betreten einen der beiden Verabschiedungsräume des Münchner Bestattungsinstituts AETAS. Die Bestatterin und Trauerbegleiterin geht hier seit fast zwanzig Jahren ein und aus – mehrere Male täglich. Stille empfängt uns, von draußen fällt Sonnenlicht durch die Fensterscheiben. Eine Sitzgruppe aus Korbstühlen, eine Bildertrilogie an der Wand, Motiv: tränendes Herz. Auf dem kleinen Tisch brennt noch eine Kerze. Die Angehörigen sind gerade gegangen. Hinter einer Schiebetür liegt der Verstorbene aufgebahrt im Sarg. Der Abschied hängt noch im Raum. Kerzenwachs, der süßliche Geruch eines toten Körpers und Blumenduft mischen sich dezent in der Luft. So riecht der Abschied von einem verstorbenen Menschen.
Aufbahrung und Trauerarbeit
Das Abschiednehmen am offenen Sarg ist das Herzstück der Arbeit von AETAS. Hier ist man überzeugt: Ohne Abschied ist ein Neubeginn so gut wie unmöglich. „Behalte ihn lieber lebend in Erinnerung“ – das hört man oft. Für Nicole Rinder ist das der sinnloseste Spruch, der je erfunden wurde. „Wie will ich einen lebendigen Menschen ins Feuer oder in die Erde geben? Geht nicht. Erst wenn ich ihn tot sehe, begreife ich im wahrsten Sinne des Wortes: Der ist kalt, der sieht anders aus, der riecht anders. Da passiert sozusagen die Verbindung zwischen Kopf und Herz, und ich merke: Der kann hier nicht mehr bleiben. Ich kann den toten Körper besser loslassen, wenn ich ihn gut gebettet sehe in Lieblingskleidung, eigener Decke und eigenem Kissen. Und umgeben mit den Dingen, die der Mensch gemocht hat – sein Lieblingsbuch, die Süddeutsche, eine Flasche Bier, die Karten fürs Konzert, auf das wir nicht mehr gehen konnten. Mit dem Gefühl, ihn gut gebettet zu wissen, gebe ich ihn ganz anders in die Erde als wenn ich mit alledem nichts zu tun hatte. Wir erleben immer wieder: Menschen, die sich wirklich dem Abschied stellen, sind am Tag der Beerdigung deutlich stablier als Menschen, die das nicht tun.“ Letztere zweifeln oft daran, erklärt mir die Trauerbegleiterin, dass der Verstorbene wirklich im Sarg vor ihnen liegt. Sie können es nicht glauben, weil sie es nicht gesehen haben.
«Man kann einen lebendigen Menschen nicht begraben».
Nicole Rinder
Seit knapp zwanzig Jahren gibt es das Bestattungsinstitut AETAS, das manches anders macht als die Konkurrenz auf dem Markt. AETAS bietet nicht nur Aufbahrungen an und ermutigt die Hinterbliebenen zum Abschiednehmen am offenen Sarg, sondern unterstützt Angehörige in den Tagen zwischen Tod und Bestattung auch aktiv bei der Trauerarbeit. Dem Unternehmen ist es wichtig, ganz individuell auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. Nicole Rinder spricht aus Erfahrung. „Jeder trauert anders. Aber nur, wenn du ganz durch die Trauer durchgehst mit allem, was dazugehört, dann kannst du irgendwann den Tod deines verstorbenen Angehörigen gut in dein Leben integrieren und trotzdem gesund weiterleben. Die Tage zwischen Tod und Beisetzung sind entscheidend dafür, wie das Leben nach einem Todesfall weiterläuft.“ Bei AETAS gibt es keinen Katalog und kein Standardprozedere. Hier wird geredet, geschwiegen, geweint, gelacht oder geschrien, hier bemalen Eltern die Särge ihrer toten Kinder, hier helfen Enkelkinder dabei, die Oma in den Sarg zu betten – hier läuft alles so, wie es jeder braucht.
Zwischen Sterbeort und Friedhof
Der Bestattungsdienst ist die Schnittstelle zwischen Sterbeort und Friedhof. Hier rufen die Angehörigen nach einem Todesfall an. Es folgt ein Termin zum Gespräch, um die grobe Richtung festzulegen – Erd- oder Feuerbestattung, wer bei der Trauerfeier reden soll, Anzeigen, Trauerkarten und so weiter. Mit der Unterschrift der Angehörigen nimmt AETAS den Auftrag entgegen. Zwei Bestatter fahren zum Sterbeort – meistens ist es die Pathologie einer Klinik – und holen den Verstorbenen ab. Bei AETAS wird er dann gewaschen, gekämmt, angezogen, in den Sarg gebettet. Dann kommt er für ein, zwei, drei Tage in die Kühlung – bis zur Verabschiedung, wenn die Angehörigen sich dazu entschlossen haben. Nach der Verabschiedung fahren zwei Herren den Verstorbenen zum Friedhof.
Den zweiten Abschiedsraum können wir nicht betreten, hier findet gerade eine Verabschiedung statt. Vor der Tür brennt auf einer Holzsäule eine Kerze, daneben stehen eine Sonnenblume und ein Schild mit dem Namen des Verstorbenen. Nicole Rinder führt mich weiter in den ersten Stock. Schlicht und doch mit Stil und Blick fürs Detail eingerichtete Gesprächsräume, die Wärme und Freundlichkeit ausstrahlen. Hier gibt AETAS den Angehörigen Raum für ihre Trauer, hilft ihnen bei der Planung der Bestattung und bei der Bewältigung der Tage bis dahin.
Hinter den Kulissen
Die Trauerbegleiterin bringt mich in den Keller. Hier blicke ich hinter die Kulissen – Angehörige kommen hier nicht her. Nicole Rinder zeigt auf eine Babytrage neben der Tür. „Damit holen wir kleine Kinder ab“, erklärt sie mir. Ob die oft im Einsatz ist? Nicole Rinder nickt. „Ja, sehr oft“, antwortet sie leise. Wir betreten das Sarglager – ein Raum von der Größe einer Mehrfachgarage, voller Särge und Sargdeckel. Verschiedene Modelle, verschiedene Farben. „Ein bisschen Auswahl müssen wir ja da haben“, sagt die Bestatterin mit einem Augenzwinkern. Sie schiebt einen Leichentransportwagen zur Seite und führt mich weiter in einen viel kleineren Raum mit viel kleineren Särgen. Winzige Holzkästen für ganz kleine Kinder.
Einmal um die Ecke, dann stehen wir vor der Kühlung. Eine weiße Box, vielleicht acht Quadratmeter groß, mit einer schweren Doppeltür. Ich trete ein, aber weit komme ich nicht. Der Raum ist voller Särge. Zehn Tote warten hier auf ihre Verabschiedung oder die Fahrt zum Friedhof. Zumindest sind sie hier in Gesellschaft. Auf einem Sarg steht eine Babytrage. „Wenn wir ein Kind abholen“, sagt Nicole Rinder hinter mir, „dann ist das oft nicht allein in der Kühlung. Oft sind es zwei gleichzeitig. Dann erzähle ich den Eltern, dass da noch ein Zwei- oder Fünfjähriger liegt.“ Es ist kalt hier drin, ungefähr vier Grad. Aus den Neonröhren an der Decke schießt grelles Licht. Ich versuche, mir vorzustellen, wie das wohl ist, hier zu liegen und zu warten. Ob man als Toter hier zur Ruhe kommen kann? Gemütlich ist es jedenfalls nicht.
Es geht weiter in die hauseigene Pathologie. Sie ist kleiner als die im Krankenhaus, aber die Einrichtung ist dieselbe: Ein Obduktionstisch aus Edelstahl, ein Waschbecken, ein paar Schränke. Hier arbeitet Frank Steuer. Als Bestatter wäscht er Verstorbene, kleidet sie an und bereitet sie für die Verabschiedung vor. Hauptsächlich ist er aber Thanatopraktiker. Sein Spezialgebiet sind Rekonstruktionen stark verletzter Verstorbener, damit sie für die Verabschiedung ansehnlich sind und würdevoll aussehen. Bei einer Rekonstruktion arbeitet der Thanatopraktiker mit Nadel und Faden, mit Schminke und mit Techniken aus der Maskenbildnerei, um den Verstorbenen so gut wie irgend möglich wieder herzurichten. Ab und zu werden Verstorbene auch einbalsamiert. Dabei kommen bestimmte Flüssigkeiten wie Formalin zum Einsatz, gelegentlich auch Farbstoffe, um einem sehr blassen oder verfärbten Körper wieder eine natürliche Farbe zu geben. Herr Steuer ist gerade auswärts bei einem Termin, und ich treffe ihn erst später für ein Gespräch. Hier unten finde ich lediglich ein paar Spuren seiner letzten Arbeit: Ein paar Fläschchen mit Flüssigkeiten, Hautfarbe und einen Fön.
Wir steigen die Kellertreppe zurück hinauf ins Tageslicht und betreten das Bürogebäude. Hier ist alles offen, keine Türen, Glas statt Wänden in drei Richtungen. Der Herr am Rezeptionstresen grüßt zu mir herüber. Offenheit und Ruhe durchfluten den Raum, man fühlt sich sofort gut aufgehoben. Mehrere Stimmen dringen aus den Tiefen der Büroräume zu mir ins Foyer, jemand ruft was, woanders läuft eine Unterhaltung. „Wir brauchen einen ganz extremen Austausch“, sagt Nicole Rinder. „Wir reden, reden, reden, reden. Deshalb haben wir hier auch so ein offenes Bürokonzept. Wir müssen das, was wir täglich erleben, auch loswerden können. Bei uns heißt es: nicht runterschlucken, sondern raus damit.“
In guten Händen
Nach meinem dreistündigen Besuch bei AETAS verlasse ich das Bestattungsinstitut mit dem Eindruck, man ist hier in vielen guten Händen – als Toter genauso wie als Hinterbliebener. Hier denken Menschen über die Grenzen der Katalogbestattung hinaus. Sie machen das scheinbar Unmögliche möglich und das Unerträgliche erträglich. Sie geben ihr Bestes, um Verstorbene auf ihrem letzten Weg so gut wie möglich zu begleiten und ihnen und ihren Angehörigen einen würdevollen Abschied zu ermöglichen. Und sie ermutigen Menschen dazu, sich von toten Angehörigen zu verabschieden und sich mit dem Tod bewusst auseinanderzusetzen anstatt ihn zu verdrängen.
»Wir werden alle sterben. Und das letzte Bild eines Menschen ist das Bild, wenn er tot ist. Dieses Bild zu sehen, macht die Sache rund. Sonst fehlt was.«
Nicole Rinder
Teil 3 der Reportage: Letzte Wege: Ruhe
Teil 1 der Reportage: Letzte Wege: Aufbruch
Interview mit Trauerbegleiterin Nicole Rinder
Interview mit Thanatopraktiker Frank Steuer