Diese Freundschaft beginnt am Ende: Elke Schultz-Ketzler ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin. Die Dienstage verbringt sie mit Elvira Gössl im Elisabeth Hospiz Ingolstadt. Über das Kommen und Gehen und das, was bleibt.
Noch vor sieben Monaten kannten sich Elke Schultz-Ketzler und Elvira Gössl nicht. Heute sitzen sie nebeneinander in dem Raum mit dem gelborangen Linoleumboden und lachen vertraut miteinander. Sie beide interessieren sich für Politik, essen gern Pommes Frites mit Mayonnaise und beide neigen dazu zu lächeln, wenn sich Stille im Raum ausbreitet. Beide Frauen werden sterben. Der Unterschied ist: Elvira Gössl hat eine konkretere Vorstellung, wann das sein könnte. Als sie in das Elisabeth-Hospiz in Ingolstadt zog, war es, wie sie selbst sagt, kurz vor knapp. Das war vor sechs Monaten. Seit dieser Zeit ist Elke Schultz-Ketzler an Elvira Gössls Seite. Schultz-Ketzler ist ehrenamtliche Sterbebegleiterin.
Jeden Dienstag kommt sie zu Besuch in das Hospiz. Dann geht sie durch den Flur mit den Bildern an den Wänden, die man in einer Klinik vermutet. Die Nahaufnahme einer Blume – Passpartout hinter weißen Bilderrahmen. Die Wand gegenüber ziert ein gemalter Baum. In seinem grünen Blätterwerk hängen Fotos mit kleinen Namensschildern darunter – die Angestellten, viele Frauen mittleren Alters, vereinzelt Männer – lächeln den Gästen oder Besuchern wie Elke Schultz-Ketzler entgegen. Oben im ersten Stock, in dem Zimmer mit dem überdachten Balkon, wird sie schon erwartet.
Wenn die Chemie stimmt
Elvira Gössl ist eine zierliche Frau mit kurzen weißen Haaren, klaren hellblauen Augen und einem überraschend kräftigen Händedruck. Wenn sie spricht, dann mit leiser, brüchiger Stimme, als koste es sie Anstrengung. „Zum ersten Mal haben Elke und ich uns damals in meiner Wohnung getroffen“, sagt sie und fügt hinzu: „Wir hatten sofort Gesprächsstoff.“ Die Frauen stellten fest, dass sie beide Hunde und Wölfe lieben und unterhielten sich lange über das Gebirge. Schultz-Ketzler macht gerne Ausflüge dorthin, Gössl wanderte früher mehrere Tage alleine durch die Berge und übernachtete in kleinen Hütten. Schnell war beiden klar: Die Vermittlerin aus dem Hospizverein Ingolstadt hatte zwei Menschen zusammengebracht, bei denen die Chemie stimmt.
Es ist das erste Mal, dass Elke Schultz-Ketzler einen Mensch begleitet, der sterben wird. Sie hatte ein Ehrenamt gesucht, das zu ihr passte. „Der Tod ist ein Teil des Lebens, genau wie die Geburt. Wieso sollte er ein Tabu sein?“, fragt sie mit stetem Blick, als erwarte sie keine Antwort. „Wenn es um das Sterben geht, reduziert sich das Leben auf das Wesentliche. Das ist etwas, das ich sehr intensiv finde und wo ich mich sehe“, sagt sie. Es habe sie deshalb nur wenig Mut gekostet, die ehrenamtliche Ausbildung beim Hospizverein zu beginnen.
>>Der Tod ist Teil des Lebens, genau wie die Geburt<<
Elke Schultz-Ketzler
Ein Jahr lang besuchte Schultz-Ketzler regelmäßig Seminare, machte bei Rollenspielen mit und absolvierte ein Praktikum in einer Einrichtung. Sie lernte viel über den Tod und die Lebenden. Etwa, wie man mit Angehörigen spricht. Wie Beerdigungen ablaufen. Oder, dass Menschen mit dem Tod hadern und sagen: Du hast es leicht, du gehst hier wieder raus. Und ich bleibe hier und sterbe.
„Ich war gut vorbereitet, aber trotzdem dachte ich: Kann ich das? Und auf wen treffe ich?“, erinnert sich Schultz-Ketzler heute. Eine blonde Strähne hat sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und fällt ihr ins Gesicht. Um ihren Hals trägt sie einen braunen Heilstein. „Ich bin ein spiritueller Mensch“, sagt Schultz-Ketzler, die seit fast 20 Jahren eine Naturheilpraxis führt. „Ich habe mich darauf verlassen, dass mir schon das Richtige geschickt wird. Es war mein Glück, dass ich auf Elvira getroffen bin.“
Wenn jedes Gespräch das letzte sein könnte
Wenn die Frauen miteinander Zeit verbringen, schiebt Elke Schultz-Ketzler ihre Freundin oft in einem Rollstuhl in die Fußgängerzone, das Gehen ist zu anstrengend. Die beiden sind gerne unter Leuten, trinken Kaffee, kaufen ein wenig ein, Zigaretten oder Kleidung. Manchmal, sagt Elvira Gössl, gehen sie auch in den Dritte-Welt-Laden. Sofort korrigiert sie sich. „Weltladen“, sagt sie „heute heißt es korrekterweise Weltladen.“
Elvira Gössl war früher Sekretärin, verbrachte zwei Jahre in Cardiff, arbeitete als Aupair und war am College. Seitdem liest sie Bücher gerne auf Englisch. Sie ist politisch sehr interessiert, hat seit Jahrzehnten den Donaukurier abonniert, liest viel und sieht fern. „Wir reden oft über aktuelle politische Themen“, sagt ihre Begleiterin Schultz-Ketzler. „Umweltschutz. Oder Fremdenfeindlichkeit. Und manchmal auch über Männer.“ Die beiden tauschen einen Blick und lachen, die eine hell und kräftig, die andere fast lautlos, aber nicht weniger herzlich.
Über den Tod sprechen die Fraum kaum. Wenn Elke da ist, gebe es für Elvira Gössl Wichtigeres, sagt sie. Wie es ihrer Besucherin geht etwa oder was die beiden machen werden, ob sie heute rausgehen. „Sterben“, sagt sie mit schiefem Lächeln, „das mache ich abends auf dem Balkon beim Rauchen.“
>>Sterben, das mache ich abends auf dem Balkon beim Rauchen<<
Elvira Gössl
Oft sitzt Gössl dick eingemummt auf ihrer überdachten Veranda. Den Blick auf die Häuser der Ingolstädter Stadtmauer gerichtet, in der Hand eine Marlboro Silver Blue. Wenn sie alleine ist, hängt sie ihren Gedanken nach. Sie habe schon immer viel gegrübelt. „Ich brauche die Ruhe, gerade jetzt, da ich weiß, es geht dem Ende zu.“ Elvira Gössl nutze die Zeit, ihr Leben nochmal im Rückblick zu betrachten. Vor dem, was noch auf sie zukommt, fürchte sie sich nicht.
„Ich habe keine Angst vor dem Tod – zumindest bis jetzt nicht“, sagt sie. Elvira Gössl hat Vorbereitungen getroffen. Sie hat einen Bibelspruch für ihre Todesanzeige gewählt. „Ich komme von Gott, ich gehe zu Gott“, sagt sie. Ihr Glaube habe ihr immer Kraft gegeben. Und sie hat entschieden, wie sie beerdigt werden möchte: nur im engsten Kreis. Dazu zählt sie auch Elke Schultz-Ketzler. „Als ich das gehört habe, sind mir fast die Tränen vor Rührung gekommen“, sagt Schultz-Ketzler.
Gäste unter Gästen
Die Zeit mit ihrer Begleiterin, Elvira Gössl weiß sie zu schätzen, ebenso wie das Leben, in der Einrichtung. „Ich bin die lebendige Reklame für das Hospiz“, sagt sie. Außer Gössl leben zwölf Menschen im Elisabeth Hospiz, „Gäste“ nennt man sie hier. Für die Menschen aus Gössls Umfeld sei es zu Beginn schwer gewesen, als sie erfuhren, dass sie in ein Hospiz zieht, erzählt sie. Außer Elke Schultz-Ketzler bekommt sie auch von ihrem 47-jährigen Sohn Besuch, der mit seinen zwei Kindern in München lebt. Und ihre ehemaligen Nachbarn, zwei junge Männer, kommen immer wieder vorbei. „Nach dem ersten Besuch waren sie ganz erstaunt, wie schön es hier ist.“ Heute ist sie froh, dass sie eine Mitarbeiterin des Caritas-Notdienstes auf den Hospizverein aufmerksam machte. Gössl ist sich sicher: Besser hätte sie es nicht erwischen können. „Hier wird alles getan, dass man keine unnötigen Schmerzen hat. Und sterben muss jeder“, sagt sie. Dann schaut zu Elke Schultz-Ketzler und fügt hinzu: „Aber bis es so weit ist, möchte ich Pommes Frites essen.“
>>Aber bis es so weit ist, möchte ich Pommes Frites essen<<
Elvira Gössl
Wie viele Ausflüge an den Imbiss, wie viele Gespräche über Gott und die Welt, wie viele Dienstage sie noch miteinander erleben werden, wissen die Frauen nicht. Welche Strategien Elke Schultz-Ketzler als Begleiterin hat, um damit umzugehen? Keine. „Ich bin nicht hier, um mich abzugrenzen“, sagt sie. Mitfühlen, da sein, aber zugleich nicht das Schicksal anderer auf die eigenen Schultern nehmen, das sei ihr wichtig.
>>Ich bin nicht hier, um mich abzugrenzen<<
Elke Schultz-Ketzler
Nahe geht ihr die besondere Freundschaft und ihre Vergänglichkeit dennoch: Als sie im Juli für zwei Wochen zum Klettern nach Frankreich fuhr und ihre Freundin kränkelte, hatte Elke Schultz-Ketzler kein gutes Gefühl. „Ich sagte zu Elvira: Halte durch, wir sehen uns wieder. Beim Verabschieden hatten wir beide feuchte Augen.“ Elvira Gössl hielt durch und heute sagt Schultz-Ketzler: „Gerade habe ich das Gefühl, wenn ich nächste Woche komme, bist du auf jeden Fall noch da.“ Ein warmer Blick, asynchrones Lachen. Und dann schlägt Begleiterin Schultz-Ketzler einen ernsten Ton an. „Wenn Elvira stirbt, werde ich trauern. Dann verliere ich eine Freundin“, sagt sie leise. Ein kurzer Moment verstreicht, Elke Schultz-Ketzler wendet den Blick nicht ab. „Aber ich habe zuvor auch eine Freundin gewonnen.“