Um die Mittagszeit herum ist der beste Zeitpunkt, um dem hektischen Treiben am Marienplatz für einen kurzen Moment zu entkommen. Biegt man ab in den prunkvollen Innenhof des Neuen Rathauses und geht vorbei an den vielen Gästen, die in der Rathauskantine in der Schlange stehen oder an einem Tisch im Hof sitzen, gelangt man ein paar Meter weiter im rückwärtigen Teil des Gebäudes in die Rathausgalerie. Nur wenige Menschen verirren sich zu dieser Zeit hierher, da unweit das Glockenspiel im Turm des Neuen Rathauses ein viel größerer Magnet zu sein scheint als die großen Siebdrucke des Gerd Winner.
Gerd Winner
Gerd Winner, geboren 1936 in Braunschweig, ist einer der bedeutendsten Maler und Grafiker Deutschlands. Er ist durch seine großformatigen Werke im öffentlichen Raum bekannt geworden, bei denen er vorwiegend die Technik des künstlerischen Siebdrucks verwendet. Diese entwickelte er nach ihrer Neuentdeckung von Künstlern der englischen und amerikanischen Pop Art zu Beginn der 1960er Jahre radikal weiter, indem er den bis dahin durch verhältnismäßig einfache Formen, Farben und Schriftzüge gekennzeichneten Grafiken eine Komplexität hinzufügte, die es zuvor in dem Bereich noch nicht gab.
Die Siebdrucktechnik
Der Siebdruck ist ein spezielles Druckverfahren, welches vor allem in der Werbe-, Beschriftungs-, Textil- und Keramikindustrie eingesetzt wird. Mit diesem Verfahren können neben Papier viele andere Materialien wie Textilien, Kunststoffe, Holz, Metall und Glas bedruckt werden. Entscheidender Vorteil hierbei ist, dass geformte Flächen wie Glasflaschen und Gehäuse bedruckt werden können. Der Siebdruck entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus der Schablonentechnik. In Deutschland etablierte sich die Technik in den 1920er Jahren unter anderem in der Rüstungsindustrie zur Beschriftung von Rüstungsgütern der Wehrmacht. In den USA war der Siebdruck schon vorher weit verbreitet und wurde bis in die 1960er Jahre stetig weiterentwickelt.
In seinen künstlerischen Siebdrucken setzt sich Gerd Winner unter anderem mit dem Thema Urbanität und Metropolen auseinander. Er lebte und arbeitete viele Jahre in London, New York, Berlin, Tokio und München. Städte, die man in erster Linie mit Hektik, Stress, Trubel, vielen Menschen, wenig Freiraum und ausschließlich künstlich – vom Menschen – erzeugten Strukturen verbindet. Bei den meisten erweckt der Gedanke an Metropolen ein Gefühl von Unruhe und Unbehagen. Es geht um die Frage, ob die durch den Gedanken an eine Metropole erzeugte innere Unruhe durch den Ort, an dem dieser Gedanke entsteht, relativiert werden kann und ob eine auf den ersten Blick unruhige Art der Darstellung von Urbanität vielleicht sogar eine meditative Wirkung auf den Betrachter haben kann.
Gerd Winner nutzt in seiner künstlerischen Arbeit die Darstellung von Architektur. Durch Überlagerungen und Überblendungen einzelner Momentaufnahmen verschwimmen diese miteinander und bilden auf den ersten Blick ein heilloses Durcheinander. Dabei vermeidet Winner die explizite Darstellung von Menschen. Die portraitierten Metropolen – von New York und Paris über London bis nach München – sind Stadtansichten; ohne den Menschen zu zeigen erscheinen sie leer und bleiben auf das Wesentliche reduziert. Nichts scheint zu stören und die Überlagerung von einzelnen Aufnahmen erzeugt eine Detailfülle, die den Betrachter einzufangen versucht und verweilen lässt. Die Darstellungen richten den Blick des Künstlers und den Blick des Betrachters auf die Wirklichkeit der Städte. Man kann sich an den Bildern nicht sofort sattsehen, sondern entdeckt immer neue Perspektiven und Details, je länger man sie betrachtet. Das führt innerlich zu einer intensiven Auseinandersetzung, bei der man nach kurzer Zeit spürt, dass es viele Betrachtungsweisen und Interpretationen zu geben scheint. In einem Interview aus dem Jahr 2007 anlässlich der Ausstellung „Urbane Strukturen“ im Braunschweiger Stadtschloss sagte Winner dazu:
Neue Perspektive
„Für mich gibt es hinter den Bildern immer eine zweite Wirklichkeit, eine zweite Realität, die spirituell ist. Ich bedarf aber eines Vorwands, eines Vorwurfs, eines Zeichens aus dieser Zeit für diese Zeit. Dieses „Slow“ auf der Straße zusammen mit diesen den Weg bestimmenden Wänden, empfinde ich als eine Reflektion, die nach Innen sieht. Die lapidare Straßensituation ist nicht das, was ich meine. Es erschließt sich sofort die meditative Seite dieses Bildes. Wichtig ist mir, dass es auch nicht eine sogenannte Eindeutigkeit gibt. Indem dieses Bild sehr viele Fragen stellt und wenige beantwortet, offenbart dieses Bild seine tiefere Bedeutung. Mit andern Worten: „Slow“ ist nicht ein Fingerzeig der Mahnung, sondern es ist die Frage nach dem Woher und Wohin.“
Gerd Winner. Aus einem Interview anlässlich der Ausstellung „Urbane Strukturen“ in Braunschweig, 2007
Der Weg Winners führte ihn unter anderem nach New York. Für ihn ist der Times Square das Herz New Yorks und eine architekturgewordene Verkörperung seiner Idee und Utopie von Stadt überhaupt. Ein Ort, der ständig in Bewegung ist, wo Licht und Schatten, Wärme und Kälte, Emotionen und Rhythmen in all ihrer Stärke aufeinandertreffen. Und es ist vor allem die Siebdrucktechnik, mit der Winner es schafft, seinen Blick auf die Wirklichkeit der Städte mit all ihren vielen verschiedenen Facetten in einer einzelnen Darstellung zu bündeln. Es entstanden faszinierende Portraits von Städten.
Die Rathausgalerie mit ihrem zentral gelegenen Brunnen, der sanft vor sich hinplätschert, erzeugt einen angenehmen Kontrast zu den ausdrucksstarken Exponaten. Beim Durchwandern der Ausstellung durch den großen Raum, der über ein satiniertes Glasdach mit sanft gefiltertem Tageslicht gespeist wird, wird man zur Mittagszeit nur von wenigen anderen Besuchern gestört, die Leere bringt Entspannung, die sonst im Zentrum der Stadt fehlt. Es erscheint die richtige Tageszeit zu sein, um die magische Anziehungskraft der Bilder für einen Moment auf sich wirken zu lassen. Die Gedanken können an diesem Ort wunderbar umherschweifen.
Zurück in die Unruhe
Nach einiger Zeit verlässt man die Rathausgalerie mit neu gewonnenen Eindrücken von urbanen Strukturen, schlendert zurück durch den Innenhof des Neuen Rathauses, vorbei an den noch immer in der Schlange der Rathauskantine wartenden Gästen und weiter durch das Holztor auf den nach wie vor sehr hektischen Marienplatz, wo gerade das tägliche Glockenspiel aufgehört hat und damit auch das Klicken der vielen Fotoapparate und Handys langsam verstummt. Es war ein kurzer aber dennoch sehr schöner Moment der Ruhe.