Seit 2001 arbeitet Nicole Rinder bei AETAS. Sie ist Bestatterin und Trauerbegleiterin und leitet das Unternehmen zusammen mit dem Gründer Florian Rauch. Ihr Schwerpunkt war lange die Betreuung verstorbener Kinder und ihrer Eltern – inzwischen betreut sie Tote und Angehörige auch in allen anderen Fällen.
Hat hier jeder einen Schwerpunkt?
Eigentlich nicht. Ich wollte nur von Anfang an keine normale Bestatterin sein. Ich wollte nicht nur ältere Menschen begleiten, die ein langes Leben gelebt haben und sterben dürfen. Ich habe gemerkt, dass es Unterschiede gibt – im Tod, in der Trauer und dahingehend, wie Menschen damit umgehen. Ich wollte Eltern begleiten, weil ich aus eigener Erfahung weiß, wie Eltern trauern und was ihnen guttut. Hier bei AETAS war man darüber froh, weil die meisten doch eher unsicher sind, wenn ein Kind stirbt – viele haben Angst vor den Emotionen und dem Verhalten der Eltern. Nachdem relativ schnell bekannt wurde, dass wir anders arbeiten als die anderen Bestatter, haben wir auch viele schwierige Begleitungen bekommen. Dabei haben wir gemerkt, dass das, was wir Eltern anbieten – das Kind anziehen, in den Sarg betten, den Sarg bemalen, Sargbeigaben mitgeben –genauso funktioniert, wenn Erwachsene sterben. So kamen immer mehr Begleitungen dazu, und irgendwann habe auch ich alle begleitet. Kinder und Eltern waren zuerst nur mein Schwerpunkt, weil ich vor ihnen keine Angst hatte.
Wovor haben wir denn solche Angst?
Vor dem Ausdruck, wie Menschen mit der Trauer umgehen. Vor dem Schmerz. Wenn sich Menschen bei uns vorstellen und hier arbeiten möchten, haben die wenigsten ein Problem mit den Toten. Die meisten hören relativ schnell wieder auf, weil sie das emotional nicht schaffen. Es ist auch heftig. Man bekommt alles ab. Die Aggression des Vaters, dessen Kind überfahren wurde – der sitzt hier und will Ihnen an die Gurgel, weil er einen Schuldigen braucht. Es ist richtig emotional. Das muss man selbst gut verarbeiten, und das können viele nicht. Viele machen gern bürokratische Arbeiten, aber sobald ihnen der Angehörige gegenübersitzt und zu weinen anfängt, wird es schwierig. Ich erinnere meine Mitarbeitern immer daran: Wir sind dafür da, dass die Tränen fließen dürfen und dass die Menschen reden. Dass sie hier auch schreien dürfen, wenn sie ihr Kind wiedersehen, oder den Mann, der sich das Leben genommen hat. Das ist unser Ansatz. Wir tun eben nicht so, als würden wir nicht sehen, was da gerade passiert.
Kann man bei Ihrem Beruf im Feierabend abschalten?
Nur zu einem gewissen Teil, denn das ist ein Beruf im Sinne von Berufung. Sie können hier nicht herkommen und sagen: Ich mache meinen Job. Diese Art Arbeit bestimmt Ihr Leben – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad, und Sie brauchen zu Hause auch jemanden, der das aushält. Genauso wie wir die Geschichten der Trauernden aushalten müssen, brauchen wir zu Hause jemanden, der unsere Geschichten aushält. Manchmal kommst du heim mit einem unfassbaren Erlebnis im Gepäck. Eine Mutter, 39, drei Kinder, hat sich das Leben genommen – alle drei Kinder im Sarg gelegen. Das macht was mit dir, und du musst es loswerden und jemandem erzählen.
Haben die Menschen, die hier arbeiten, irgendein besonderes Merkmal, das sie alle verbindet?
Das Herz am rechten Fleck. Und sie sind empathisch. Wenn du das nicht kannst, bist du hier verloren, und der Beruf wird dich krank machen. Und was die Menschen hier auch können ist aushalten. Stille aushalten, Tränen aushalten, Wut aushalten. Das können nur wenige. Wenn jemand anfängt zu weinen, wollen die meisten Leute ganz schnell trösten – „das wird schon wieder“. Aber das stimmt hier einfach nicht. Die Frau ist tot. Das wird nicht wieder. Das ist ein anderer Ansatz, ein anderer Blick. Den muss man hier mitbringen.
Was machen Sie hier bei AETAS anders als andere Institute?
Wir unterstützen bei der Trauerarbeit. Wir sitzen nicht hier, schlagen den Ordner auf und sagen: So. Jetzt suchen Sie sich bitte Sterbebild, Sargganitur, und Sterbehemd aus. Wir ermutigen die Angehörigen, die eigene Kleidung zu nehmen. Das ist unglaublich schwer aber unglaublich wichtig. Auch das eigene Kissen, die eigene Decke. Da stehen die Leute zu Hause, nehmen die Decke, riechen nochmal dran – das ist Trauerarbeit. Nicht passiv dasitzen, im Katalog blättern und wie erstarrt wieder gehen. Trauerarbeit ist, sich auf den Weg zu machen. Die Musik für die Beisetzung auszusuchen. Einen Spruch zum Sterbebild. Das Sterbebild – wir nennen es Erinnerungsbild – auszuwählen, ist auch sehr wichtig, um Abschied zu nehmen. Die Menschen setzen sich zu Hause zusammen, verteilen Fotos auf dem Tisch und fangen an, zu erzählen. Da wird gelacht, da wird geweint. Diese Art Begleitung unterscheidet sich von dem, was manch andere Kollegen auf dem Markt anbieten. Wir hören oft von Kollegen, was wir denn den Menschen antun. Wir sehen genau das Gegenteil: Sie werden aktiv, kommen raus aus der Starre und setzen sich mit dem Schlimmsten auseinander, was ihnen passieren konnte. Rückgängig machen können wir es nicht. Da muss man schauen, dass die Menschen die Tage zwischen Tod und Beisetzung so gut wie möglich für den Abschied nutzen und der Ohnmacht, die nach dem Tod immer kommt, etwas entgegensetzen.
Gibt es bei anderen Bestattern keine Verabschiedungen?
Doch. Die Kollegen haben ihr Angebot in den letzten Jahren auch geändert. Zum einen, weil sie vielleicht wirklich merken, wie wichtig dieser Schritt ist, und zum anderen, weil die Konkurrenz nicht schläft. Wie oft dies dann im Alltag auch wirklich umgesetzt wird, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass wir täglich mehrere Abschiede in unserem Haus haben, da die Verabschiedung das Herzstück unserer ist.
Hat man hier auch mehrere Tage Zeit für den Abschied?
Ja. Familien haben auch die Möglichkeit, zwei-, drei- oder viermal zu kommen. Dies wird oft nach sehr tragischen Todesfällen gebraucht. Sie können können den Abschiedsraum nur nicht rund um die Uhr nutzen, also 24 Stunden am Stück, da wir hier nur zwei Abschiedsräume haben – und die sind immer besetzt, auch jetzt in diesem Moment. Eine Verabschiedung dauert normalerweise ungefähr zwei Stunden, dann wird der Verstorbene zum Friedhof oder in die Kühlung gebracht, und der nächste Abschied wird vorbereitet. Wir bieten aber auch an, den Toten nach Hause zu bringen, wenn die Familie Totenwache halten möchte. Da kann er ohne Weiteres drei Tage lang bleiben.
Totenwache – machen das viele Leute?
Nein. Leider die wenigsten. Wenn, dann machen das Eltern, deren Kinder Krebs hatten und deren Wunsch war, dass die Kinder zu Hause sterben können. Wenn das dann doch nicht geklappt hat, weil die Kinder doch noch in die Klinik mussten, biete ich die Möglichkeit der Totenwache immer nochmal an. Etwa die Hälfte der Eltern nimmt das Angebot an. Die anderen haben Angst, das tote Kind nochmal nach Hause zu holen. Anders ist es, wenn jemand zu Hause stirbt. Wenn uns die Leute dann anrufen, ermutigen wir sie immer, den Angehörigen noch daheim zu lassen, wenigestens einen Tag. Das tun dann einige auch.
Denken Sie viel an Ihren eigenen Tod?
Ich denke jetzt nicht ständig an meinen Tod, aber mein Beruf hält mir täglich vor Augen, dass ich nicht unsterblich bin. Ich weiß: Es kann morgen vorbei sein, und ich habe es nicht in der Hand. Ich genieße mein Leben. Ich schiebe nichts auf. Ich sage nie, ach, das mache ich nächstes Jahr. Wer weiß, ob ich dann noch da bin. Der Tod macht mir keine Angst. Das kann ich jetzt natürlich locker sagen – wer weiß, wie es aussieht, wenn der Sensemann dann wirklich neben mir sitzt und ich nicht mehr viel Zeit habe. Ich mache mir Gedanken, wie meine Beerdigung aussehen soll. Aber das ist für mich so der ganz normale Umgang.
Es gibt ja inzwischen viele Alternativen zur klassischen Erd- und Feuerbestattung. Wollen die Menschen eher Alternativen?
Der Trend geht dahin, dass die Leute ihre Beerdigung im Vorhinein planen und festlegen. Wir sind nicht so große Fans davon. Klar, ich habe auch festgelegt, dass ich eine Erdbestattung möchte und am Friedhof liegen – so ein paar Dinge, die mir eben wichtig sind. Aber den Hauptteil dürfen die entscheiden, die übrig bleiben. Sonst nimmt man denen ja die ganze Trauerarbeit. Es macht Sinn, über die Basics nachzudenken und auch mit der Familie drüber zu sprechen, aber alles ins kleinste Detail vorher zu planen – das finde ich nicht gut. Und ja, es gibt einen Trend weg vom Friedhof. Der Friedhof hat sehr starre Vorschriften, und der Mensch will sich nicht mehr alles so starr vorschreiben lassen. Aber es gibt auch auf den Friedhöfen inzwischen Alternativen, zum Beispiel die Baumbestattung oder den Mosaikgarten hier am Westfriedhof. Die Gemeinden merken also schon, dass die Menschen was anderes wollen als diesen Grabstein. Und: der Trend geht ganz klar weg von der Erd- und hin zur Feuerbestattung, weil es da viel mehr Möglichkeiten für die Beisetzung gibt.
Was glauben Sie: Wie ist die Zeit zwischen Tod und Beisetzung für den Verstorbenen?
Unruhig ist es natürlich, wenn wir ins Krankenhaus kommen, den Toten aus der Kühlung holen und anziehen. Das ist bestimmt nicht so schön. Wir schneiden keine Kleidung auf, und wir nehmen auch keine Sterbehemden, die man einfach nur drüberzieht. Wir ziehen die Verstorbenen wirklich an. Da musst du schon ein bisschen anpacken. Da spreche ich dann auch mit den Toten und sage: „Jetzt müssen wir Sie leider nochmal kurz ärgern“ – also, das Anziehen ist sicher ungemütlich. Dann werden sie in den Sarg gebettet, müssen nochmal Auto fahren und kommen dann hier bei uns in die Kühlung. Da sind sie dann natürlich noch zusammen mit vielen anderen. Für den Abschied holen wir sie dann, und da wird es nochmal unruhig – da kommen die Angehörigen und Freunde und fassen sie wieder an und reden mit ihnen. Dann wieder Kühlung und dann die Fahrt zum Friedhof – die sind also schon in Bewegung in den Tagen vor der Beisetzung. Aber wie das für die Toten wirklich ist? Das werden wir erst wissen, wenn wir selbst da liegen.
Und was passiert dann nach der Beisetzung? Gibt es sowas wie die ewige Ruhe?
In mir selbst schlagen zwei Herzen. Das eine sagt, da passiert gar nichts, der Tod ist wie tief schlafen. Das andere Herz sagt, da muss schon irgendwas sein. Die Seele und die Energie, die wir haben – all das, was uns ausmacht, wer wir sind – das muss ja irgendwo hingehen. Energie geht ja immer irgendwohin. Und vieleicht werden wir, wenn wir in die Erde oder ins Feuer gehen, in eine andere Energie umgewandelt. Vielleicht werden wir dann sowas wie der Wind in den Bäumen. Und natürlich würde ich mir wünschen, meinen Sohn und meinen Bruder dann wieder zu sehen. Aber wenn ich ganz ehrlich bin, dann weiß ich: Das ist das menschliche Wunschdenken. Und ich glaube, wenn wir tot sind, ist uns das auch egal. Das ist uns nud hier nur auf Erden so wichtig. Warum maßen wir uns das auch immer an, zu vermuten, was danach kommt. Kein Mensch weiß es. Aber wir werden es alle erleben.
Erfüllt Sie der Beruf?
Ja. Sonst würde ich das nicht schon so lange machen. Mich erfüllt vor allem, dass wir was bewegen. Hier in München, und auch anderswo. Es kommen andere Städte auf uns zu und wollen, dass wir ein Institut bei ihnen aufmachen. Das berührt mich sehr und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Dabei haben wir gar nichts Neues erfunden. Wir versuchen nur, das, was früher selbstverständlich war, den Menschen wieder nahezubringen.
Letzte Wege: Abschied – Beitrag über das Bestattungsinstitut AETAS
Interview mit Thanatopraktiker Frank Steuer