Nach dem Tod geschieht noch viel, bevor wir unter die Erde kommen. Eine dreiteilige Reportage über die letzten Wege vor der ewigen Ruhe.
Ich folge den Grabmachern. Der Friedhofskies knirscht unter meinen Stiefeln. Es ist kurz nach acht an einem Septembermittwoch. Die Herbstkälte beißt sich durch meine Jacke, kriecht unter meine Haut, lässt die Hände klamm werden. Mein Atem schiebt sich wie eine weiße Wolke in die Morgenluft. Der Himmel hängt wie Watte über uns, hier und da schimmert ein Hauch Blau durch das geballte Weiß. Ob die Sonne es heute schafft?
Unter Grabmachern
Sektion 44: ein Familiengrab. Hier soll Frau T. in wenigen Stunden der Erde übergeben werden. Die drei Männer beginnen mit der Arbeit. Sie gehören zu den letzten Wegbereitern für Frau T. auf ihrer Reise unter die Erde, und sie werden der Verstorbenen den letzten Dienst auf diesem Weg erweisen, wenn sie später das Grab wieder schließen.
Der Bagger steht in Position, der Motor heult auf. Die Schaufel senkt sich über dem Grab, reißt Veilchen und Buchs aus dem Boden, lässt die Erde in einen Container fallen. Ein Grabmacher steuert das Gerät, die anderen beiden verfolgen die Schaufelbewegung, geben dem Baggerführer Zeichen: ein Stück weiter rechts, und jetzt – absenken. Die Maschine röhrt, es klingt wie auf einer Baustelle. Wir müssen fast schreien, um uns zu verstehen. In einem Familiengrab liegen die Toten übereinander, erklärt mir einer der Männer. Der erste in 1,80 Meter Tiefe, der nächste auf 1,20 Metern. Dann ist das Grab voll. Zehn Jahre müssen nun vergehen, bevor man den nächsten Sarg begraben darf. So lautet die gesetzliche Frist. Zehn Jahre dauert sie also, die ewige Ruhe.
Das Loch ist nun etwa einen Meter tief. Einer der Männer springt hinein, misst Länge und Breite genau ab. Das ist wichtig, damit der Sarg bei der Bestattung auch sicher hineinpasst, erklärt er dem Kollegen, der erst seit Kurzem dabei ist. Die Männer kleiden das Grab mit Brettern und Metallklemmen aus, damit die Wände halten. Hier wurde zuletzt 2005 jemand beerdigt, lese ich auf dem Grabstein. Vierzehn Jahre ewige Ruhe auf 1,20 m. Etwas tiefer liegt noch jemand, seit 2000. Doch jetzt kommt Bewegung in die Totenruhe. Die Baggerschaufel hebt alte Sargbretter aus dem Loch, die Grabmacher werden stutzig. Das Holz sieht noch sehr gut aus. Ein Anruf in der Verwaltung: Ob die Frist wirklich schon verstrichen ist? Sicher ist sicher. Grünes Licht. Mehr Sargbretter kommen zum Vorschein, dazwischen Leinentuchreste, Metallgriffe vom Sarg, Knochen, etwas, das noch ein bisschen aussieht wie ein Bein, ein Schädel. Stück für Stück sortieren die Grabmacher per Hand alle sterblichen Überreste aus der Erde, sammeln die Knochen auf einem Haufen im Gras, damit nichts verloren geht. Der Bagger gräbt weiter, bis auf 1,80 m. Noch einmal Tuchreste, Gebeine, ein weiterer Schädel. Vom Sarg ist hier nicht mehr viel übrig.
Mit einem Spaten werden Grabwand und Boden geebnet. Dann hebt der Bagger die sterblichen Überreste zurück in das Loch, breitet eine dünne Schicht Erde darüber. Der Motor verstummt. Die Grabmacher legen Bretter und Metallgitter aus, damit der Sarg später gut steht, bevor er in die Erde hinabgelassen wird. Dann ist das Grab fertig. Für die drei Männer heißt das: Kaffeepause.
Besuch in der Stille
Ich besuche Frau T. in der Aufbahrung. In Weiß gebettet liegt sie im offenen Sarg hinter der Glasfront der Aufbahrungszelle. Ein Meer grüner Topfpflanzen umrahmt die Tote. Seit drei Tagen wartet sie hier auf ihre Beerdigung. Die Hände liegen gefaltet auf der Decke, Gesicht und Haare schimmern wie graue Seide im Licht der künstlichen Kerzenleuchter. Es ist so still an diesem Ort, als gäbe es hier keine Zeit. Und doch ist er nur eine Station auf der Durchreise, nichts für die Ewigkeit.
Frau T. ist öffentlich aufgebahrt. Jeder kann sie so sehen. Das gibt es nur noch selten, erklärt mir der Aufbahrer. Früher war es ganz normal, die Toten am Friedhof aufgebahrt zu zeigen. Heute ist das eher unüblich. Warum nehmen wir so viel Abstand von unseren Toten? Das kann mir der Aufbahrer auch nicht so recht beantworten. Die Leute wollen so etwas einfach nicht sehen, wollen nichts wissen vom Tod, so erklärt er sich das.
Ein kleiner Mann, etwa Anfang 40, schwarze Haare mit silbernen Akzenten. Die dunklen Augen strahlen Wärme aus. Früher war er mal Schlosser, später Bankangestellter. Vor acht Jahren begann er seine Arbeit als Aufbarer. Seitdem nimmt er Urnen und Särge in Empfang, hebt Sargdeckel ab, prüft, ob die Namen auf den Totenzetteln an den Füßen der Verstorbenen mit den Namen auf seiner Liste übereinstimmen, platziert Särge in Aufbahrungszellen, dekoriert sie mit Blumenschmuck, übergibt die Toten für den Weg zum Grab an die Kollegen von der Bestattung. Wie kommt man von einer Bank auf den Friedhof? Meine Frage lässt den Mann schmunzeln. Er klärt mich auf: Der Vater war auch Bestatter, genauso wie der Onkel. Die Bestattungsbranche gehört also zur Familie. Ob ihn der Beruf erfüllt? „Ja“, sagt er, und sein Blick streift Frau T. in ihrem Sarg. „Das ist genau der richtige Platz für mich. So zufrieden wie hier auf dem Friedhof war ich vorher nie.“
Über die Verstorbenen weiß der Aufbarer nur, was er für die Arbeit wissen muss. Auf seiner Liste stehen die Namen der Toten, ein paar Zahlen, Tag und Uhrzeit der Bestattung. „Infektiös“, heißt es neongelb unterstrichen an einer Stelle. Das ist zu seiner Sicherheit. Mehr steht da nicht. Für weitere Informationen brauche er aber nur in der Verwaltung nachfragen. Mehr zu erfahren wäre kein Problem. Dann hält ein Lieferwagen im Hof, und er muss weiter, um dem Floristen Blumenkränze abzunehmen.
Die letzte Feier
Vor der Aussegnungshalle sammelt sich die Trauergemeinde. Etwa sechzig Leute sind hier, um ein letztes Mal Abschied zu nehmen. Hände werden geschüttelt, man umarmt sich, spricht sich leise Worte des Mitgefühls zu. Zwei uniformierte Bestatter bitten in die Kapelle. Hier riecht es nach Kerzen und Weihrauch, durch die Fenster unter der Dachkuppel fällt helles Licht. Ganz oben in der Mitte der Kuppel strahlt ein goldenes Kreuz. Trotz der Herbstkälte ruht eine friedliche Wärme im hohen Raum. Das gedämpfte Stimmengewirr der Trauergäste füllt die Halle, klingt beinahe wie ein Raunen aus dem Jenseits, ein Willkommensgruß für die Verstorbene. Zu viert schieben die Bestatter den Sarg durch das Tor herein, verneigen sich vor der Toten. Das Gemurmel ebbt ab. Aus den Lautsprechern ertönt Musik, das Finale einer italienischen Oper. Das Stück in Dur durchspült den Raum wie eine Welle der Zuversicht. Es klingt nach einem gelungenen Abschluss und endet mit Pauken und Trompeten. Ein Pfarrer ergreift das Wort, erzählt aus dem Leben der Verstorbenen, spricht von der Liebe als Brücke zwischen dem Hier und dem Jenseits.
Der letzte Weg
Dann beginnt für Frau T. der letzte Weg. Die Bestatter tragen den Sarg zu viert hinaus vor die Kapelle und weiter die Kieswege entlang. Die Trauergemeinde folgt, Glockenlgeläut begleitet den Trauerzug zum Grab. Es ist ein langsamer, feierlicher letzter Weg. Das Baggerloch säumen nun roter Samt und Rosenblüten, von der Bretterverschalung ist nichts mehr zu sehen. Die Bestatter heben den Sarg an, eine letzte menschliche Berührung. Dann gleitet das helle Holz an Gurten hinab in die Erde.
Als der letzte Trauergast das Grab verlassen hat, kommen die Grabmacher zurück. Unfallgefahr, erklären mir die Männer, deshalb muss das Loch so schnell wie möglich wieder geschlossen werden. Der rote Samtstoff wird beiseite gelegt, der Bagger schaufelt die ausgehobene Erde aus dem Container zurück ins Grab.
Schnell ist der Sarg verschwunden. Wie das wohl einmal sein wird, wenn man selbst dort liegt? Irgendwann wird der Moment kommen. Ob man von alledem dann irgendetwas merkt?
Der Container ist leer, Frau T. liegt jetzt 1,80 Meter tief unter der Erde. Einer der Männer verwandelt das Grab mit dem Sargschmuck und den Rosenblüten in ein Blumenmeer. Dann ist Feierabend.
Kann man nach der Arbeit überhaupt abschalten, wenn man den ganzen Tag Tote begräbt? Der Grabmacher nickt. „Das lernt man schnell. Man muss ja auch am Leben teilnehmen, so lange man es kann.“ Ich möchte wissen, ob jede Beerdigung dieselbe Arbeit ist, ob man abstumpft. „Es ist schon sehr viel Routine“, bestätigt der junge Mann. „Aber klar gibt es immer wieder Geschichten, die einem nachgehen. Wenn ich ein Kind begraben muss, ist das schon was anderes als wenn da ein alter Mensch im Sarg liegt, der ein ganzes Leben gelebt hat. Ich habe selbst zwei Kinder.“
Was hat man als Grabmacher für ein Verhältnis zum Tod, wo man ihm tagtäglich begegnet? Denkt man viel über den eigenen Tod nach? „Man lernt das Leben nochmal auf eine intensivere Art schätzen.“ Der Mann findet noch eine Rose hinter dem Grabstein und legt sie in das Blumenmeer. „Man lebt ein bisschen ruhiger und passt besser auf sich auf – weil man jeden Tag sieht, dass plötzlich alles vorbei sein kann.“
Teil 1 der Reportage: Letzte Wege: Aufbruch
Teil 2 der Reportage: Letzte Wege: Abschied