Ein halbes Jahr ohne Klo? Kann man machen. Man muss es nur wollen. Und wir wollten es unbedingt. Endlich draußen sein, den ganzen Tag nur laufen und in der Natur leben, mit allem, was dazugehört – oder eben nicht. Es ist April 2018, und wir stehen auf dem Pacific Crest Trail, mitten in der südkalifornischen Pampa, mit Zelt und Rucksack zu Fuß unterwegs von Mexiko nach Kanada. Wir, das sind zwei abenteuerempfängliche Mittdreißiger, auf unserem Reiseblog auch bekannt als Herr und Frau Wandersmann. Job gekündigt, Wohnung untervermietet, Rucksack gepackt, und tschüss. 4200 Kilometer Weitwanderweg – durch die kalifornische Wüste, die High Sierra Nevada, die Wälder in Oregon und die Northern Cascades in Washington. Sechs Monate zu Fuß von dem berühmten schäbigen Wellblechzaun an der mexikanischen Grenze bis zum Zielmonument in Kanada.
Es ist ein sehr aktiver Lebensstil hier draußen im wilden Westen. Man stellt sich das so super entspannt vor: ein bisschen laufen, ein kleines Snickers zwischendurch, ein bisschen weiter laufen. Ungefähr so stimmt das schon, aber gemütlich ist doch etwas anderes. Man ist permanent mit irgendetwas beschäftigt. Route planen, Rucksack packen, Meilen zurücklegen, Equipment richten, Wasser filtern, Zeltplatz suchen, Zelt aufbauen, kochen, essen, Füße pflegen, und so weiter. Die Momente zum Entspannen im Sinne des unproduktiven Herumsitzens muss man wirklich suchen. Aber wir hatten das ja so gewollt.
Die Sache mit der Ruhe in der Natur
… die hatten wir uns allerdings anders vorgestellt. Statt der ganz großen Einsamkeit treffen wir unendlich viele andere Hiker und werden besonders in den ersten Wochen permanent von unsäglich aufgeregten Trullas heimgesucht, die alles wahnsinnig amazing finden und ohne Punkt und Komma plappern und fotografieren. Sehr viele Leute, sehr viel Gequatsche, zu oft dieselbe Unterhaltung. Es ist fast wie eine Hostelreise, die Einsamkeit ist sehr rar. Seit der Film „Wild“ in die Kinos kam, hat sich die Hikerzahl auf dem Pacific Crest Trail von ein paar Hundert auf mehrere Tausend pro Saison vervielfacht. Die arme Natur findet das sicher sehr anstrengend, genau wie unsere Ohren. Das Hikerblabla ist immer dasselbe: Wie heißt man, wo kommt man her, wo geht man als nächstes hin, wem tut welcher Fuß weh, wer ist wie viele Meilen gelaufen, was gibt’s zu essen.
Einen einzigen großen Unterschied gibt es im Vergleich zum Standardgespräch auf einer Hostelreise oder zu jener Art Unterhaltung, die man daheim an der Supermarktkasse mit der Nachbarin Gisela führen würde, der man regelmäßig beim Einkaufen begegnet. Ein sehr beliebtes Smalltalkthema ist im Hikermilieu das tägliche Geschäft, das hier auf dem Trail genauso erledigt werden muss wie zu Hause. Weshalb dieses Thema hier so selbstverständlich in den Smalltalk einfließt, bleibt ungeklärt, aber so ist es nun mal.
Die große Debatte
Man unterhält sich angeregt über den letzten Oberflächen-Brownie (zu Englisch: „surface shit“), den irgendjemand am Wegrand hinterlassen und hübsch mit Toilettenpapier verziert hat. Offenbar mangelte es an einer adäquaten Schaufel, um ein ordentliches Loch zu graben, und an der nötigen Motivation, das Toilettenpapier wieder mitzunehmen – so, wie sich das hier draußen gehört, damit die Natur halbwegs ordentlich bleibt. „Pack it out“, heißt das im Fachjargon. Oder man debattiert die Frage, ob die Natur- oder die Zivilisationsvariante des Toilettengangs zu bevorzugen ist. Dabei geht es um Aspekte wie Bequemlichkeit, die Beanspruchung der Beinmuskulatur in der Hockposition, die ideale Position vor, während und nach dem Vorgang, den Wohlfühlfaktor draußen versus drinnen und, und, und. Das Thema, liebe Freunde, ist enorm facettenreich.
Ganz abgesehen von den eher technischen Aspekten spricht in fast jeder dieser Debatten ein schlagendes Argument für die Naturvariante: Man ist, natürlich im Rahmen gewisser geländegegebener Einschränkungen, erstens sehr frei in Sachen Platzwahl, und zweitens fällt der Blick bei der ganzen Prozedur nicht tagein, tagaus immer auf dieselbe Toilettentür oder in dieselbe Illustrierte. Ganz im Gegenteil: Man hat als Reisender in der Wildnis das Vergnügen, sich jedes Mal ein ganz neues, unberührtes stilles Örtchen zu suchen, und – das ist das Allerbeste an der Sache – man genießt dabei oftmals einen wunderschönen, einmaligen, privaten und selbstgewählten Blick auf die Natur. Eine Scheißaussicht ist in diesem Sinne also etwas ausgesprochen Positives:
Eine einmalige Sache
Aus einem alltäglichen Bedürfnis wird somit jeden Tag aufs Neue eine einmalige Sache. Jedem, der mal ein Leben ohne Klo riskieren möchte, sei dies hiermit ausdrücklich ans Herz gelegt – es wird sich ihm in jeder Hinsicht eine völlig neue, (ent)spannende Geschäftswelt auftun. An dieser Stelle nur noch ein kleiner Tipp für Anfänger: Einmalig bleibt die ganze Sache in der Natur nur dann, wenn man seinen Mitmenschen einen kleinen Hinweis hinterlässt.
„Dies war mein stilles Örtchen, und hier gräbst du nur, wenn du ein rechter Depp bist“, lässt dieses freundliche, hölzerne Kreuz allfällige Nachkömmlinge wissen. Damit ist dann alles erledigt und alles gesagt, und nun ist auch genug aus dem Bähkästchen geplaudert.