Gleitschirmwetter. Wagen oder nicht, wer hat sich das nicht schon gefragt? Mut gehört dazu und Vertrauen.
Eine Reportage von Ines Wagner.
Mit leichten Turbulenzen durch die Inversionsschicht, aufdrehen bis auf 1.949 Meter Höhe, der Sonne entgegen und dann 40 Minuten gleiten, gleiten, gleiten. Hier der Großglockner, dort die Zugspitze, da hinten der weiße Fleck: die Allianz Arena. München. Unten wartet die Ehefrau, hebt die Hand über die Augen. Sie versucht, den blau-gelben Gleitschirm von Tandempilot Hagen Mühlich zu erspähen. Ihm hat sie ihren Hans anvertraut. Die Sonne blendet, es riecht nach Bärlauch, die butterblumengelbe Wiese soll der Landeplatz sein, am Fuße des Brauneck.
Wolkenlos mit Turbulenzen
Es sind viele Gleitschirme am Himmel. Der ist heute wolkenlos. Es herrscht Blauthermik. „Nicht ganz ideal“, meint Hagen Mühlich vor dem Flug, aber fast. Die wärmere Luft steigt auf, ohne Wolken zu bilden. Dadurch entstehen Aufwinde, es kann Turbulenzen geben. Der Wind kommt von Südost, gute Startbedingungen am Brauneck bei Lenggries. Die Aussicht auf die schneebedeckten Gipfel ist grandios.
Hagen Mühlich fliegt seit 1989. Schon „bevor die Tandemflüge aufkamen“, sagt er. Bevor aus dem Gleitschirmfliegen ein „hipper“ Sport wurde. Zuvor flogen nur die „Bergerer“. Der 49-Jährige ist ein Erfahrener, dem sich die Passagiere ruhigen Gewissens anvertrauen können. Er ist Weltcup geflogen, hat als Testpilot gearbeitet und gehörte zu den 50 besten Gleitschirmfliegern Deutschlands. Es sind überwiegend Frauen, die einen Tandemflug buchen. „Das könnte an meinem Logo liegen“, meint er. „Fliegerherz“ steht auf seinem grauen VW-Bus. Das Logo sieht aus wie ein Tattoo, ein rotes Herz mit zwei Tragflächen.
„Unabstürzbare“ Gleitschirme
„Tandemgleitschirme sind auf Sicherheit gebaut, nicht auf Hochleistung“, erklärt er. „Sie sind quasi unabstürzbar.“ Darum könne man der Technik hundertprozentig vertrauen. Alle zwei Jahre müssten die Schirme zum TÜV. Und natürlich wird das Material zwischendurch gewartet. Jede der 1,80 cm dicken Schnüre kann 300 Kilo tragen. Der Schirm aus Polyurethan beschichtetem Nylon ist reißfest. Sollte er je einen Schlitz bekommen, verhindert die Webkonstruktion, dass er sich vergrößert. Viele der Passagiere interessiert das nicht im Detail. Sie gehen davon aus, dass in „Deutschland mit seinem Sicherheitswahn“ das Fliegen sicher ist.
Warum es doch bisweilen zu Unfällen kommt, liegt an der Unerfahrenheit mancher Gleitschirmflieger. „Und an ihrer Selbstüberschätzung“, ergänzt Hagen Mühlich. Die schwierigste Verantwortung besteht darin, einen geplanten Start am Berg auch mal abzubrechen. Selbst wenn die Enttäuschung dann groß ist. Sicherheit geht vor. Schon in der Gondel beobachtet er den Wind, analysiert, wie die Gleitschirmpiloten losfliegen. Danach wählt er den geeigneten Startplatz aus.
Kick oder was ganz Verrücktes wagen
Die Passagiere vertrauen darauf, dass er sein Handwerk versteht, die Sicherheitsstandards einhält, das Wetter richtig einschätzt. Viele bekommen den Flug geschenkt. So wie Hans, der als Methodiker bei BMW arbeitet. Bei einer Wanderung an der Zugspitze hatte er mit seiner Frau die Gleitschirmflieger beobachtet und spontan ausgerufen: „Des mechat i a amol.“ Deshalb gab es den Flug zum Geburtstag. Vor allem junge Frauen bekommen oft von Arbeitskolleginnen einen Gutschein, da geht es um den Kick. Es kommen auch Frauen ab Mitte vierzig, die nach dem Auszug der Kinder oder Bruch einer Partnerschaft in ein neues Leben „fliegen“. Oder Sechzigjährige, die noch einmal etwas Verrücktes wagen.
Hagen Mühlich hilft Hans in den Overall, legt den Gurt an und einen Protektor, der zugleich Sitz ist. Es sind immer die gleichen Handgriffe in der gleichen Reihenfolge. Das ist wichtig für die Routine. Kurze Trockenübung, wie der Start funktioniert. „Auf 1-2-3 nach vorne gehen.“ Wenn er den Fallschirm hochzieht, gibt’s einen Ruck nach hinten. Dann bloß nicht hinsetzen. „Das tun tatsächlich manche“, meint Mühlich. Dann gegenhalten und das nächste Kommando befolgen: „Lauf, lauf, lauf“. Hans macht seine Sache gut. Läuft, ein, zwei Sekunden, dann sind sie schon in der Luft.
Eine Frage des Vertrauens oder einfach ein gutes Gefühl
Der blau-gelbe Schirm gleitet in die Ferne, zuerst talwärts, dann gewinnt er Höhe. Unten steht seine Frau auf der Butterblumenwiese. Ihr Blick ist in den Himmel gerichtet. Ins Azurblau haben sich ein paar weiße Cumuluswolken gemischt. Ob sie Angst um ihren Mann hat oder Vertrauen in Hagen Mühlich und die Gleitschirmtechnik? Die Ehefrau überlegt kurz. Darüber hat sie sich keine Gedanken gemacht, gesteht sie. Es war sein Wunsch, und den hat sie gern erfüllt. Jetzt wartet sie gespannt auf die Landung.
Inzwischen ist der Gleitschirm in Sicht. Dreht noch ein paar extra Spiralen, fast Loopings. Dann landen sie in der Wiese, sanft, wohlbehalten. Hans hebt schon von weitem die Daumen nach oben. „Wahnsinn“, ruft er, „das war das Beste überhaupt!“ Auch die Spiralen waren der Wahnsinn. „Die konnte ich ihm zumuten“, meint Hagen Mühlich, „Hans ist Segler.“ Auch die Turbulenzen waren überschaubar. Ein Profikollege, den es beim Landen gebeutelt hat, meint anerkennend: „Der Hagen kann sogar ohne Schirm fliegen.“ Das Vertrauen zu entwickeln lohnt sich.
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Titelfoto: Ines Wagner