Neuinszenierung eines Klassikers – Wenn der Vorhang erwacht…
Nicolas Stemann inszeniert „Der Kirschgarten‘ von Anton Tschechow und bringt den Grundkonflikt des Gesellschaftsumbruchs auf die Bühne der Münchener Kammerspiele. Eine Idee zur richtigen Zeit. eine Kritik von Nina Stenberg
Das Bühnenbild ist schlicht, Stühle stehen herum. Eine futuristische Musikmaschine samt dem Musiker, der sie bedient, steht am hinteren Teil der Bühne und erzeugt einen schrägen Sound. Der Mann in eine goldglitzernde Schutzfolie eingehüllt, lässt den Schlagbohrer erdröhnen. Ein Höllenlärm. Freistehende Standmikrophone stehen den Figuren als Requisiten zur Verfügung, jede Botschaft soll laut ertönen. Und sie tut es auch.
Wedelnd bewegt sich der schwere Theatervorhang auf der Bühne, ein altes Relikt aus dem klassischen Theater. Einige nervt es, andere erinnern sich gerne. Der rote Vorhang schließt und öffnet sich in kurzen Intervallen, trennt den hinteren Teil der Bühne von dem vorderen. Trennt die Schauspieler voneinander, trennt Vergangenheit und Zukunft und bringt den Wandel auf die Bühne. Der Vorhang spaltet die Gesellschaft. Wenn sich der massige Samtstoff wieder öffnet, gewährt er Perspektive und Hoffnung, doch diese werden nicht erfüllt. Der Vorhang fällt.
Dicke Baumstämme stürzen mit Wucht auf die Bühne
Großgrundbesitzerin Ljubow Ranjewskaja und ihr Bruder Gajew verschwenden ihr Geld, träumen von der guten alten Zeit, ihrer sorglosen Kindheit auf dem Gut des Kirschgartens. Lethargie und Nostalgie – trotz der Verschuldung huldigen sie der Verschwendung. Beide Rollen werden wunderbar gespielt von der alternden und zugleich fast zarten Ilse Ritter mit feuerrotem Haar und Daniel Lommatzsch, der lässig in seine Rolle schlüpft.
Der Kirschgarten symbolisiert – damals wie heute – Tradition, Schönheit und Wohlstand. Aber der Garten bringt keinen Ertrag mehr, er wird versteigert. Plötzlich knallt es ohrenbetäubend im vollbesetzten Theatersaal. Dicke Baumstämme stürzen mit unvermuteter Wucht von der Decke auf die Holzplanken der Bühne. Eine ausgedehnte Schrecksekunde und die Welt geht unter, so scheint es, oder ist gar eine Bombe explodiert? Während das Publikum hochschreckt und Mühe hat sich wieder zu fangen, reagieren die Theaterfiguren nicht sonderlich besorgt. Man lässt es irgendwie geschehen. Die Kirschbäume sind gefällt.
Grandios wie Brigitte Hobmaier die Gouvernantin spielt. Mit der Gutsherrin aus Paris zurückgekehrt, heitert sie die niedergeschlagene, lethargische Adelsgesellschaft mit kleinen Zaubertricks auf. Die gesamte Noblesse lässt sich allzu gern von den realen Problemen ablenken. Dann ein brillanter Soloauftritt. In der zweiten Hälfte des Bühnenspiels vollführt Hobmaier – als allwissende Erzählerin – einen exzentrischen Ausdruckstanz und repliziert in einem amüsanten Schnelldurchlauf die Highlights des ersten Teils. Das Publikum wird lebendig und applaudiert verzückt.
Ob sich etwas ändert, wenn es laut wird?
Wenn Tschechow mit seiner Tragikomödie die gesellschaftlichen Verhältnisse Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts kritisiert und an den Fortschritt geglaubt hat, der Standesgrenzen überwindet. So lässt Stemanns Neuinterpretation keine Hoffnung erkennen. Er nutzt den Plot des russischen Schriftstellers und versetzt ihn in das Jetzt. Die aktuelle Protestbewegung von Pegida und AfD bieten da wohl keinen Ausblick mehr. Scheinbar regiert der Frust. Den Menschen werden nur noch hasserfüllte Parolen entgegen geschleudert, emotionale Ausbrüche legitimiert.
Den Unmut der Abgehängten brüllt Diener Firs ins Standmikrophon. Heiter gespielt vom jungen und üppigen Samuil Stojanov, ist Firs immer unfrei gewesen und am Ende allein zurückgelassen als die Herrschaft nach Paris abreist. Seiner ursprünglichen Dieneraufgaben enthoben, mimt er halt- und perspektivlos den Wutbürger. Er wird immer lauter und brüllt. Ins Publikum hinein. In die Welt hinaus. Was übrig bleibt ist das Schreien.
Stemanns eigene Umsetzung des Theaterklassikers Der Kirschgarten in den Münchener Kammerspielen ist eine pessimistische Zeitdiagnose. Unzählige Male auf den Weltbühnen aufgeführt, kann das Tschechow-Drama auch in der aktuellen Darbietung trotzdem eine Debatte über die Kraft von Zukunftsvisionen auslösen. Denn weiter geht es immer, auch wenn die Kommunikation im Moment etwas laut wirkt. Der rote Vorhang wird zum Leben erweckt.