Unter dem Motto Kunst & Kultur für alle kann sich jede:r im mobilen Foto-Truck des französischen Künstlers JR ablichten lassen. Die Porträts werden ausgedruckt und vor Ort plakatiert. Eine Street-Art Aktion im Rahmen der aktuellen Ausstellung JR: Chronicles in der Kunsthalle.
Auf dem Vorplatz des Gasteig HP8 in Sendling, einem Stadtteil im Münchner Süden, schart sich eine kleine Gruppe Menschen um einen schwarzen Kleintransporter mit französischem Kennzeichen. Die hinteren Türen sind geöffnet, die Markise ist seitlich ausgeklappt. „Möchten Sie sich für das Inside Out Projekt fotografieren lassen?“ fragt eine junge Frau. „Alle können mitmachen.“
Im zum mobilen Fotostudio umgebauten Kleintransporter wird fotografiert. Die Porträts werden sofort auf 90×135 cm Größe ausgedruckt und vor Ort plakatiert. Bisher kleben erst wenige Gesichter an den Mauern des großzügig angelegten Gasteig Ausweichquartiers.
Wir befinden uns mitten in einer Street-Art Aktion des französischen Künstlers JR. Sie ist Teil des Rahmenprogramms seiner bisher größten Retrospektive JR: Chronicles in der Kunsthalle. „JR ist ein renommierter französischer Künstler. Ihm geht es mit seinen Street-Art Projekten darum, Aufmerksamkeit zu generieren und Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Themen selbst vorzutragen,“ so Anja Huber, Kuratorin der Kunsthalle München.
“Zur Kultur zählt nicht nur das Museum, sondern auch das Begegnen von Menschen und das Miteinander, das in den vergangenen Jahren viel zu kurz gekommen ist.“ Mit der Inside Out Aktion wolle man JRs Street-Art Projekte für alle Menschen zugänglich und erlebbar machen. Auch für diejenigen, die nicht ins Museum gehen.
Gesicht zeigen, eine Stimme haben
Mit seinem Gesicht zu Kunst werden, sich selbst überdimensional groß auf einer Wand zu sehen. Ist das die Motivation der hier versammelten Menschen teilzunehmen?
Karin, eine Münchner Stylistin, posiert bereits mit ihrem fertigen Porträt für ein Making of Foto. Sie habe JR damals im Zeit-Magazin entdeckt, erzählt sie. Durch die Porträts der Palästinenser und Israelis, die in der Aktion face to face, lustige Grimassen schneidend, nebeneinander an den Mauern im Gazastreifen hingen. „Seit 2007 verfolge ich JRs Kunst. Ich freue mich endlich bei einem Projekt dabei zu sein. Ich mag, dass es bei JR nicht um ihn selbst, sondern um die Menschen geht. JR ist ein Künstler mit Herz.“
Die Irin Brid, eine Lehrerin, und ihr zehnjähriger Sohn haben in der Ausstellung von der Street-Art Aktion erfahren. Brid ist begeistert von JRs Kunst. „JR is not the French version of Banksy“, sagt sie.
JR sei nicht so anonym und bringe doch auch sozial und politisch relevante Themen in den Vordergrund. Jeder habe eine Geschichte zu erzählen. Hier gewähren die Menschen Einblicke in ihr Leben und sind bereit, sie mit uns zu teilen. „I want to show people that I exist as well!”
Kunst auf der Straße
„Wir wollten mit JR eine Aktion im öffentlichen Raum machen. Das ist der Ort, an dem Kunst entsteht“, so Kuratorin Anja Huber. In der Tat nimmt sich JR, dessen Initialen für seinen bürgerlichen Vornamen stehen, bei seinen Kunstaktionen zurück. In der Öffentlichkeit trägt er meist Hut und Sonnenbrille. Er will nicht das Sprachrohr seiner Projekte sein. Vielmehr bietet er eine Plattform für Kommunikation.
Für die Valeriia Solidaritätsaktion mit der Ukraine, die er vor der Ausstellungseröffnung am Odeonsplatz initiierte, war er nur kurz in der Stadt. „Natürlich kann er nicht bei allen Aktionen persönlich anwesend sein“, so Kuratorin Anja Huber. Er hat mittlerweile Studios und große Teams in Paris, Genf und New York, die für ihn um die ganze Welt reisen.
Das Team um den Foto-Truck
In München ist Valentin verantwortlich für die Abläufe. Er ist ein Mitarbeiter aus JRs Studio in Paris und kümmert sich heute um die Warteschlange am Foto-Truck. Die Fotokabine am hinteren Ende des Trucks ist vergleichbar mit einem modernen Passfoto-Automaten.
Valentin erklärt jedem Einzelnen die Details, Sucher, Kamera und er drückt auf den Auslöser. Die Fotos werden sofort ausgedruckt und schieben sich wie ein Polaroid durch das Ausgabefach an der Vorderseite des Trucks.
Nicolas, Sean, Emile und Ales plakatieren ein großformatiges Porträt nach dem anderen auf die Außenflächen der Gebäude. Im Street-Art-Jargon heißt das pasten (von to paste = kleben). Mit bloßem Augenmaß legen die Vier Hand an und erschaffen nach und nach ein menschliches Kachelmosaik aus Gesichtern.
„Wir verwenden ganz normales Papier mit 90 g/m2, darauf werden auch Architekturpläne gedruckt“, erklärt Ales, der Dienstälteste und so etwas wie der Anführer des kleinen Trupps. „Im Schnitt pasten wir 200 bis 250 Porträts pro Tag.“
Normalerweise brauche es fünf Mitarbeiter für einen Truck. Bei größeren Kunstaktionen mit mehr als 1000 Porträts am Tag helfen Freiwillige, wie etwa beim Bekleben der Londoner Tower Bridge im letzten Jahr.
Ales kommt aus Slowenien und ist der Liebe wegen nach Frankreich gezogen. Verliebt ist er aber auch in seinen Job. Er ist seit zehn Jahren für JR unterwegs und mag die guten Vibes. Durch die Kunstprojekte sei er schon viel gereist. Im Mai war er mit JR bei einem Flüchtlingsprojekt in Afrika. „It makes me rich“, schließt Ales.
Eine Botschaft für die Welt
Die positiven Vibes strömen mittlerweile über den ganzen Platz. Alle, die jetzt erst ankommen, müssen mit einer Stunde Wartezeit rechnen. Das tut der guten Stimmung keinen Abbruch. JR´s Auflage ist es in den drei Sekunden vor der Kamera ein Strong Face (ein ausdrucksstarkes Gesicht) zu machen.
Die Wartezeit lässt sich gut für Mimikstudien nutzen. Schließlich will wohl überlegt sein, welche Pose am besten wirkt und ob, oder welche Geschichte man der Welt damit erzählen möchte. Inspiration gibt es reichlich von den Wänden ringsum.
Nina und ihr Mann haben sich eine Botschaft überlegt. Sie hält eine japanische Pflanze neben ihr Gesicht. Er hat Efeu um den Hals drapiert. „Ein Appell an den Naturschutz“, meint Nina. Eigentlich habe sie das Team gebeten, ihre beiden Porträts nebeneinander zu kleben. Doch jetzt hängen sieben andere Gesichter dazwischen.
Nichts bleibt für immer
Selbst Roger Diederen, Direktor der Kunsthalle, nimmt an diesem Inside Out Projekt teil. Wie alle wartet er in der Schlange. Für das Foto formt er ein kleines Herz mit seinen Händen.
Auf die Frage, wie lange die Porträts an den Wänden kleben bleiben, antwortet er, das käme auf die jeweilige Location, die Lage der Wände, die Witterung und Abnutzung an. Geklebt werde mit biologisch abbaubarem Kleister, so dass irgendwann alle Fotos und Restbestände wieder verschwinden.
Es bleibt also abzuwarten, ob oder wieviel in ein paar Monaten noch von der Street-Art Aktion in München übrig ist. Die Plakatwände und die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit sind vergänglich.
Doch nicht ganz, die Aktion Kunst und Kultur für alle und sämtliche Inside Out Projekte weltweit, werden dokumentiert und auf der Projekt-Website veröffentlicht.
Die Münchner Kunst-Stationen
In München stand der Foto-Truck an fünf Orten. Neben dem Gasteig HP8 in Sendling auch vor dem Muca in der Hottererstrasse, Deutschlands erstem Museum für Urban Art. Dazu in den Fünf Höfen, Heimat der Kunsthalle, und am Kösk im Münchner Westend, sowie am Starnberger Flügelbahnhof.
Am Starnberger Flügelbahnhof erwartet die Caritas Station die ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine. Diese Station ist Kuratorin Anja Huber besonders in Erinnerung geblieben:
Es gab unglaublich emotionale Momente. Zum Beispiel als Flüchtlinge sich dort haben fotografieren lassen und sich in diesem riesigen Format gesehen haben. Das macht etwas mit den Menschen. Diese Art Sichtbarkeit zu erlangen steht für eine ganz andere Form des „Willkommen – und für ein wir gehören hier dazu.“ Alle Münchner:innen, Tourist:innen oder auch Flüchtlinge, die am Hauptbahnhof teilgenommen haben, gehören zusammen. Sie alle, so divers die Porträts auch sind, bilden das Gesicht dieser Stadt.
Alle können mitmachen
„Inside Out ist ein Projekt, das alle durchführen können“, erklärt Anja Huber. Jede:r hat die Möglichkeit, ein eigenes Projekt zu starten, eigene Fotos zu machen und an JRs Studio zu schicken. Jedes Porträt wird (bei Bedarf kostenlos) großformatig ausgedruckt und zurückgeschickt. So kann man eine eigene Pasting-Aktion organisieren.
JRs globales partizipatives Kunstprojekt gibt es seit 2011. Seitdem sind für Inside Out bereits mehr als 446 000 Porträts in 148 Ländern entstanden. Ein Thema an die Öffentlichkeit bringen. Aufmerksamkeit generieren. Menschen zum Stehenbleiben und Nachdenken animieren. Ein Projekt initiieren, das dazu beitragen könnte, den Blick auf die Welt zu verändern. – Ist das nicht Motivation genug für eine eigene Kunstaktion?
#Save the arctic, #black lives matter oder #we are family sind nur einige gefragte Hashtags auf der Projektseite. Es soll auch Leute geben, die nur ein schönes großformatiges Porträt für ihr Wohnzimmer haben wollen. Auch das ist möglich!
Fotos: Stephan Vorbrugg, Birgitt Greim, Kunsthalle München, Andreas Zitt/Fünf Höfe
In München fand die Inside Out Aktion Kunst und Kultur für alle bereits im September 2022 statt. Einige ausgewählte Porträts sind in der Kunsthalle plakatiert. Sie sind im Rahmen der Ausstellung JR: Chronicles bis 15.01.2023 zu sehen.
Hier geht es weiter zum Beitrag: JR: Chronicles Street Art im Museum