Mit JR: Chronicles zeigt die Kunsthalle die erste große Retrospektive des französischen Künstlers JR in München. Die Werkschau beinhaltet JR´s Museumskunst und seine vielfältigen Street Art Projekte.
Street Art ist ein Begriff aus den USA und umfasst einen weiten Bereich visueller künstlerischer Aktivitäten im öffentlichen Raum. Begrifflichkeiten wie Sprayen, Taggen oder Pasten gehören zum Vokabular der auf der Straße tätigen Künstler.
Ihre Botschaften, die mit Sprühen, Markieren oder Kleben verbreitet werden, sollen einen gesellschaftlichen Diskurs provozieren. Spätestens seit Banksy, der mit seiner anonymisierten meist sozialkritischen Spraykunst weltweites Aufsehen erregt, ist Street Art eine begehrte Kunstform.
Ein weiterer wichtiger Vertreter dieser Kunstrichtung ist nun auch in München zu sehen. Die Kunsthalle übernimmt mit JR: Chronicles die in Brooklyn organisierte Show des französischen Künstlers JR. Wie viele in seiner Branche will auch JR seine Identität nicht preisgeben. Die Initialen seines bürgerlichen Namens sollen für sein Kürzel stehen. Geboren wurde er 1983 als Sohn einer osteuropäisch-tunesischen Familie in Paris.
„Ich besitze die größte Galerie der Welt – die Mauern der Stadt!“
Bereits als Jugendlicher war er in der Graffitiszene der Pariser Vorstädte unterwegs. Eine zufällig in der Pariser Metro gefundene Kamera führte ihn zur Fotografie. Fortan plakatierte er Papierkopien seiner Fotos in der Öffentlichkeit, sprühte einen Rahmen darum und nannte sie Expo 2 Rue: Straßenausstellung!
Gleich zu Beginn der Münchner Ausstellung steht man dem überdimensional groß plakatierten Bild Hold-up (Überfall) gegenüber. Es zeigt einen schwarzen Mann in Montfermeil, einem der Pariser Stadtviertel, die während der Straßen-Aufstände 2005 im Zentrum der Berichterstattung standen. Der schwarze Mann ist JRs Kumpel Ladj Ly. Mit einem Gegenstand fokussiert er den Betrachter. Anfangs glaubt man, der Mann ziele mit einer Waffe auf ihn. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die vermeintliche Waffe eine Kamera ist.
„Dieses Foto von Ladj Ly, der seine Kamera wie eine Waffe hält, markiert den Moment, in dem ich beschloss Künstler zu werden. Es entstand zufällig.“ – JR
Mit dieser eindrucksvollen Inszenierung beweist JR, wie die menschliche Wahrnehmung durch vorhandene Klischees und Vorurteile beeinflusst wird.
Auf ähnliche Weise fotografierte JR auch die Ghettokids, die damals unter dem schlechten Ruf der Vorstädte litten. Ihre zu übertriebenen Grimassen verzogenen Gesichter plakatierte er auf der Straße und versah sie mit Namen und Adresse. Dadurch gab er den Jugendlichen Identität und Bedeutung. Gleichzeitig spiegelte er den Parisern ihre verzerrte Sicht auf die Realität.
Damit ist JR gelungen, was Dreh- und Angelpunkt seiner künstlerischen Arbeit werden sollte. Er rückte gewöhnliche Menschen in den Mittelpunkt. Er will ihre Würde bewahren, auf Unterdrückung oder gesellschaftliche Missstände hinweisen und gleichzeitig Freude und Hoffnung schenken.
Es folgten Projekte wie Woman are Heroes, Face to Face oder The Wrinkles of the City. JR plakatierte Dächer, Treppen, Busse oder Schiffe mit mahnenden Augen oder großformatigen Köpfen. Er schaffte es, ungewöhnliche Projekte zu realisieren, von denen er selbst kaum glaubte, dass sie möglich waren:
„Mir wurde klar, welche Kraft Kunst entfalten kann – besonders an den finsteren Orten.“
Dazu gehört die Installation Kikito, mit einem Picknick am streng bewachten Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko. Um auf die Probleme der von Trump propagierten Einwanderungspolitik aufmerksam zu machen, schuf JR ein surreales Bild, das Dali nicht besser hätte inszenieren können.
An einem überdimensionalen Tisch sitzen Mexikaner und Amerikaner auf beiden Seiten des Zaunes für ein gemeinsames Picknick. Der Tisch ist bedruckt mit dem riesigen Augenpaar eines Dreamers (einem Kind, das illegal in die USA eingereist ist). Ein ebenso riesiges Baby namens Kikito schaut auf die Szenerie herunter.
JR schafft es, Grenzen zu verschieben, die eigentlich unverrückbar waren oder Brücken zu bauen, die längst verloren schienen. Sein visuelles Gespür, sein gestalterisches Talent und sein Geschick für medienwirksame Auftritte helfen ihm dabei, seine Botschaften in die Öffentlichkeit zu tragen. Sein Traum ist es mit Kunst die Welt zu verändern. Jedoch ist er bescheiden genug dies in erfüllbare Worte zu fassen:
„Zu ändern, wie wir die Dinge sehen, bedeutet bereits die Dinge zu ändern.“
Ein Highlight der Ausstellung sind die Chronicles: überdimensional große bis zu 70 Meter lange Wandbilder, sogenannte Murals. Mehr als 1000 mal tippte er dafür ihm unbekannten Leuten in New York, Montfermeil oder San Francisco auf die Schulter und fragte „How are you? What´s your story?“ Er fotografierte die Einwohner in seinem mobilen Foto-Truck. Die so entstandenen Bilder arrangierte er später zu einem riesigen Massenportrait vor den Kulissen der Stadt.
Die Geschichten, die ihm die Bewohner erzählten, nahm er auf. Im Museum können sie mit Hilfe einer Gesichtserkennungsapp abgerufen werden. JR hält sich bei seinen Kunstaktionen meist zurück. Denn er will die Kunst für sich sprechen lassen. Der Dialog soll über die Menschen vor und auf den Bildern stattfinden. Diesmal allerdings, ist der Wahl New Yorker, bekleidet mit Hut und Sonnenbrille, auf mindestens einem der Murals selbst zu finden.
„Kunst ist Leben und Leben ist Kunst, Kunst muss immer zu Kommunikation führen. Der Prozess dahin ist das Herzstück meiner Arbeit“ – JR
Im letzten Raum präsentiert sich das Inside Out Projekt, das JR 2011, mit den Geldern des Ted-Prize, für mutige Ideen die Welt zu verändern, lancierte. Mit den Worten: „Together we can turn the world inside out,“ (Zusammen können wir die Welt auf den Kopf stellen) ruft er alle Menschen auf aktiv zu werden. Dafür schickt man seine eigenen Fotos an JRs Studio und erhält sie, großformatig ausgedruckt, zurück.
Die eigene Pasting-Aktion kann später auf der Projektseite von Inside Out veröffentlicht werden. Auch Institutionen können Inside Out Events organisieren. Für die Kunsthalle war JRs mobiler Foto-Truck bereits unter dem Motto Kunst & Kultur für alle in der Stadt. Dabei waren über 1400 begeisterte Menschen mit von der Partie.
JRs Kunstaktionen sind aufsehenerregend und unübersehbar. Seine abenteuerlichen Inszenierungen veranlassen Besucher stehenzubleiben und genau hinzusehen. Sie erlauben aber auch zu träumen und vorhandene Denkmuster aufzubrechen.
Im Alter von nur 39 Jahren hat es JR mit seinen außergewöhnlichen Werken schon mehrmals auf das Cover der TIME geschafft. Getragen wird seine Kunst auch von seiner charismatischen Persönlichkeit. Er bleibt sich selbst treu und respektiert gleichzeitig die Würde seiner Mitmenschen.
JR hinterlässt nicht nur einen emotionalen Fußabdruck in unseren Herzen. Die multimediale Aufbereitung der Ausstellung JR: Chronicles in den Räumen der Kunsthalle, mit ihrem umfangreichen Rahmenprogramm, vermittelt auch das großartige Gefühl fast überall dabei gewesen zu sein.
Die Ausstellung JR: Chronicles ist bis zum 15.01.2023 in der Kunsthalle zu sehen:
Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung
Theatinerstraße 8 (in den Fünf Höfen)
80333 München
Hier geht es zum Beitrag über das Münchener Inside Out Projekt Kunst und Kultur für alle:
INSIDE OUT: Ein Foto-Truck fährt um die Welt