Wie fühlt es sich an, wenn das Wort Heimat für einen keine Bedeutung hat? Wie findet ein Junge von 13 Jahren den weiten Weg allein von Teheran nach München und beginnt dort ein komplett neues Leben?
Noch immer fliehen junge Menschen aus ihrem Heimatland. Afghanen, auf der Flucht vor Krieg und Terror erhoffen sich im Iran eine neue, aussichtsreiche Zukunft. Doch dort angekommen, sehen sie sich oft mit Ausgrenzung und Rassismus konfrontiert. Und so machen viele auf eine sich auf nach Deutschland, in der Hoffnung, dort eine neue Heimat zu finden. Einer von ihnen ist Amar*. Das ist seine Geschichte.
Du bist im Alter von 13 Jahren den weiten Weg von Teheran nach Europa geflohen. Wie kam es dazu?
Amar: Damals sagte mir mein Vater: “Ich werde dich nach Europa schicken”. Er war der Meinung, dass ich mir ein gutes Leben aufbauen kann, wenn ich in Europa lebe. Er hat mich mit meinen drei Brüdern verglichen und entschieden, dass ich am geeignetsten bin, um nach Europa zu gehen und hat mich losgeschickt.
Also er hat dir gesagt: “Hier ist etwas Geld für deine Flucht und jetzt mach dich auf den Weg?” Oder wie genau kann man sich das vorstellen?
Amar: Um ehrlich zu sein, hat er mir gar kein Geld für meine Flucht gegeben.
Überhaupt kein Geld? Wie dachte er sich, dass du es schaffen wirst, ohne Geld nach Europa zu kommen?
Amar: Ich weiß auch nicht. Ich denke, er hatte nicht genug Geld, da er den Schlepper bereits bezahlt hatte. Der ganze Ablauf, das System läuft so: Die Schlepper haben überall ihre Leute. Egal in welcher Stadt. Sie bekommen das Geld von der Person, die ihre Dienste benötigt. Anschließend wird ein Taxi bestellt, das einen bis zur Grenze mitnimmt. Bei mir spielte es sich genauso ab. An der Grenze angekommen, stand dort ein Wachmann, der auch zur Polizei gehörte. Er kontrollierte keinen von uns und ließ uns einfach die Grenze überqueren.
Das heißt, die Polizei ist ein Teil der (Schlepper)-Maschinerie?
Amar: Die Polizei hilft, ja. Auch sie ist korrupt. An der Grenze waren sehr viele Geflüchtete. Um die 50 bis 60 Kinder, Frauen, ältere Männer.
Warum sind diese Afghanen aus dem Iran geflohen?
Amar: Das Leben im Iran ist zwar besser als in Afghanistan, gerade für Frauen und jüngere Leute. Aber wir „Ausländer“ haben es im Iran dennoch schwer. Für uns gibt es keine Krankenversicherung, keine gute Arbeit. Wir müssen immer harte Arbeiten ausüben – auf der Baustelle, als Müllmänner oder Putzfrauen.
Meine Eltern sind damals als junges Paar in den Iran geflüchtet, weil sie dachten, dass ihnen in einem muslimischen Land geholfen würde. Zu Beginn war das auch der Fall, aber mit der Zeit hat sich die Lage der Afghanen im Iran verschlechtert.
Gilt das für alle Afghanen im Iran?
Amar: Sicher nicht. Es gibt vereinzelt auch Afghanen, die studieren. Das ist aber die Minderheit, die, die eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Die ist allerdings auf ein Jahr befristet und muss jedes Jahr erneuert werden. Das kostet natürlich auch Geld. Auch für die Schule und Universität müssen wir Afghanen bezahlen.
Die Iraner nicht?
Amar: Nein. Nur für Privatschulen und Privatuniversitäten. Staatliche Schulen muss man als Afghane zahlen – als Iraner nicht.
Ist es also im Iran egal, ob Afghanen im Erwachsenenalter immigrieren oder im Iran geboren werden und dort aufwachsen?
Amar: Ja. Für die bist du Afghane. Selbst wenn du dort geboren und aufgewachsen bist und perfektes Farsi (Iranisch) sprichst. Für die Iraner bist du Afghane, aber in Afghanistan bist du Iraner. Man ist also in keinem Land wirklich willkommen oder zuhause.
Das Traurige ist, dass die Menschen ihren Kindern von klein auf beibringen, uns als andere Menschen anzusehen, Menschen zweiter Klasse. Diese Mentalität hat mich immer gestört. Vor kurzem, als ich im Iran zu Besuch war, hat meine kleine Nichte draußen gespielt. Iranische Kinder die dort Rad fuhren fragten sie: “Du bist Afghanin, ja?” Daraufhin kam meine Nichte zu mir und fragte mich: “Die sagen ich bin Afghanin. Was ist Afghanin?” Das hat mir sehr wehgetan. Ich habe ihr geantwortet: Wenn du das nochmal gefragt wirst, sagst du: “Ich bin ein Mensch!”
Kommen wir wieder auf deine Flucht zurück. Du bist dann also vom Iran in die Türkei gekommen…
Amar: Ja. In der Türkei angekommen, hatte ich als Illegaler natürlich keinen Schlafplatz. Das bedeutete, dass ich dort einige Monate auf der Straße leben musste. Zusammen mit Freunden, die ich auf der Flucht kennengelernt habe. Anders als in Deutschland bleibt das Obst und Gemüse in den Läden dort auch nach Ladenschluss noch draußen. Wir hatten Hunger, aber kein Geld für Essen. Also sahen wir uns gezwungen zu stehlen. Auch zum Trocknen aufgehängte Kleidung haben wir ab und zu mitgenommen, damit wir etwas zum Anziehen und zum Wechseln hatten. Es gab dort außerdem einen Bäcker, der uns immer gratis etwas von seiner Ware gegeben hat. Er kannte uns und unsere Situation.
Wie lange warst du insgesamt in der Türkei? Und wie hast du es geschafft, aus der Türkei herauszukommen?
Amar: Ich war insgesamt drei Monate in der Türkei. Nach einiger Zeit hatte ich das Glück, in Istanbul einen Menschen zu treffen, der mir seine Hilfe anbot. Im Gegenzug musste ich für ihn arbeiten. Was das genau war, kann ich nicht sagen, da die Arbeit etwas Illegales involvierte.
Irgendwann hatte ich genug Geld zusammen, um nach Griechenland zu fahren. Wir waren 30 Personen und fuhren in einem sieben Meter langen Schlauchboot, bis wir die Insel Lesbos erreichten. Angekommen in der Stadt Mytilini liefen wir elf Stunden zu Fuß, bis die Polizei uns aufgriff, mitnahm und uns in ein geschlossenes Flüchtlingscamp brachte.
Wurden euch Übersetzer gestellt, die euch erklärt haben, wie lange ihr im Gefängnis bleiben müsst?
Amar: Nein, es gab keine Übersetzer. Nach einer Woche wurden Plätze frei und man brachte uns zum Camp. Dort gab es drei Übersetzer. Sie hatten zur Aufgabe zu testen, ob man wirklich aus Afghanistan kommt. Damals hatte ich noch meinen persischen Akzent im Afghanischen und hatte Angst, man würde mich als Iraner ansehen und zurückschicken. Es gab damals tatsächlich auch viele Iraner, die sich als Afghanen ausgaben, um als Flüchtlinge anerkannt zu werden. Deswegen wurde das akribisch überprüft. Im Camp waren auch zwei Iraner, die deswegen in den Knast kamen und anschließend abgeschoben werden sollten.
Wie war die Situation im Camp? Wie viele Leute waren in einem Zelt?
Amar: Pro Zelt waren wir 25 Leute. Es gab 30 Zelte und alle waren voll. Übervoll. Die Lage war extrem angespannt. Es gibt kranke Leute, die einen sexuell belästigen. Davor hatte ich als 13-Jähriger immer Angst. Für Frauen, die ganz ohne einen Mann oder Bruder an ihrer Seite dort waren, war es noch schlimmer.
Wie lange wart ihr im Flüchtlingslager?
Amar: Eineinhalb Monate. In der Zeit sind viele Leute rein und rausgekommen – außer uns. Wir begannen einen Hungerstreik und aßen zwei Tage lang nichts, damit sie uns aus dem geschlossenen Camp lassen. Leider brachte das nichts.
Ihr seid nicht in Griechenland geblieben. Wie konntet ihr das Camp schlussendlich verlassen?
Amar: An einem Tag gab es eine große Schlägerei unter den Flüchtlingen. Zwischen Arabern und Afghanen. Daraufhin trennten sie uns. Man schickte uns nach Athen, um von dort weiterzukommen. Von Patras aus werden LKWs mit dem Schiff in andere europäische Länder transportiert. Wie durch ein Wunder schaffte ich es, mich zusammen mit vier anderen, ohne das Wissen des Fahrers, in einen der Transporter hineinzuschmuggeln. Wir sind einfach rein in den Laster, ohne sein genaues Ziel zu kennen. Wir vermuteten, dass er eher in den Westen fahren würde. Die Fahrt in dem Transporter dauerte fast zwei Tage.
Zwei Tage? Hattet ihr Wasser und Essen dabei?
Amar: Wir hatten gar nichts dabei.
Wie konntet ihr das überleben?
Amar: Ohne es zu wissen, fuhren wir in einem LKW mit, der Paprikas geladen hatte. Diese Paprika schmeckten mir so gut, dass ich sie für Pizza und alle möglichen Köstlichkeiten hielt.
Hinten im Transporter war ein Kühlhaus, in dem alle 20 Minuten eine Klimaanlage angegangen ist. Es waren fast null Grad. Später wurde uns gesagt, wären wir nur zwei Stunden länger im LKW geblieben – wir wären alle gestorben. Da wir zwei Tage lang mit angezogenen Beinen in der Kälte saßen, waren unsere Glieder komplett steif und wir total benommen. Wir merkten gar nicht, dass wir von Leuten herausgeholt wurden. Wir fragten uns: “Ist das die Realität, oder ein Traum?”
Es war also Rettung in letzter Sekunde. Was ist dann mit euch passiert?
Amar: Wir waren in Italien gelandet, in Venedig, und wurden auch hier wieder in ein Camp gebracht, in dem wir insgesamt eine Woche verbrachten. Als sie uns fragten, ob wir in Italien bleiben wollen, haben wir verneint.
Wieso wolltet ihr nicht in Italien bleiben?
Amar: Weil wir weiterkommen wollten. Jeder hatte ein Ziel. Da ich keines hatte, bin ich einfach mit den anderen mitgefahren. Einer meiner Freunde kaufte mir ein Ticket. Von Italien reisten wir nach Österreich, dann weiter nach Deutschland. Mit dem Freund habe ich leider keinen Kontakt mehr. Jeder will im Leben seinen Weg gehen. Und wenn jeder seinen Weg findet, dann ist alles andere aus der Vergangenheit vergessen. Aber ich bin ihm bis heute dankbar.
Du warst insgesamt sechs Monate auf der Flucht. Wie hast du in dieser Zeit die Kraft gefunden, weiterzumachen?
Amar: Ich war gezwungen, den Mut nicht zu verlieren. Entweder tot oder überleben. Da gibt es keine dritte Möglichkeit.
Du bist dann allein in München angekommen. Wieso genau München?
Amar: Das Ziel meiner Freunde war Schweden. Und da das Geld für diese lange Fahrt für mich nicht reichte, musste ich in München aussteigen. Ich wusste nicht, dass München zu Deutschland gehört. In einem anliegenden Park wurde ich dann von der Polizei aufgegriffen, die mich nach meinen Dokumenten fragte. Und so kam es, dass ich in Deutschland geblieben bin. Darüber bin ich sehr froh.
Was geschah dann? Wurdest du in ein Flüchtlingsheim gebracht?
Amar: Nein, kein Flüchtlingsheim, sondern ein reguläres Jugendheim. Mein erstes Erlebnis dort war witzig. Um 18 Uhr gab es Abendessen. Bei uns im Iran wird um 18 Uhr abends nur eine kleine Mahlzeit gegessen. Also dachte ich mir: “Okay jetzt esse ich etwas Kleines bis zum richtigen Abendessen um 20 Uhr.” Als es dann um 22 Uhr noch immer kein Essen gab, ging ich zur Betreuerin und sagte: “Ich habe Hunger!” Daraufhin antwortete sie mir: “Tut mir leid, die Küche ist geschlossen. Du musst schlafen gehen.“ Um 22 Uhr isst man bei uns zu Abend. Das war sehr komisch für mich.
Hast du rassistische Erfahrungen in Deutschland machen müssen?
Amar: Ja schon auch. Beispielsweise in der Schule. Es gab ein Mädchen in meiner Klasse, die damals den Quali nicht bestanden hat. Sie kam zu mir und fragte mich: “Welchen Schnitt hast du?” Ich antwortete: “2,0. Was hast du?” Daraufhin schüttelte sie ungläubig den Kopf “Du bist ein Flüchtling und hast deinen Abschluss bekommen. Das ist wahnsinnig. Wie kann das sein?” Das hat mich ziemlich tief getroffen. Ich habe sehr hart gearbeitet und wahnsinnig viel gelernt, um so einen guten Abschluss zu machen. Aber all das wäre auch ohne die Hilfe meiner Lehrer, Betreuer und meiner ehrenamtlichen Betreuerin nicht möglich gewesen. Um mich herum gab es glücklicherweise eher nette und hilfsbereite Menschen.
Was bedeutet Heimat für dich?
Amar: Nichts. Heimat gibt es nicht. Menschen und Menschlichkeit sind für mich wichtiger. Ich erinnere mich an die Tage, an denen Leute mich fragten: “Woher kommst du?” Und ich antwortete ihnen: “Ich bin ein Mensch.” Was ist das für ein Nonsens?! Ein Stück Papier ist deine Identität? Für mich lässt sie sich nicht über ein paar Merkmale auf einem Stück Papier definieren. Ich kann auch diesen starken Nationalstolz nicht nachvollziehen, den Menschen einzig aufgrund ihrer Herkunft verspüren.
Im Iran beispielsweise fühlte ich mich nie wirklich zuhause. Da hatte ich Heimweh. Heimweh nach etwas Unbekanntem. Obwohl ich dort geboren bin, hatte ich nie das Gefühl, es sei meine Heimat. Mir wurde mit der Zeit klar, dass ich nie wieder im Iran leben kann. In Deutschland lernte ich das erste Mal, was es heißt, sich zuhause zu fühlen.
Was ist für dich das Schönste am Leben in Deutschland?
Amar: Die Sicherheit. Hier sind die Menschen, egal ob Frauen oder Männer, immer in Sicherheit. Ich bin hier um 2 Uhr nachts draußen und habe keine Angst. Im Iran muss man ab 20 Uhr Angst haben rauszugehen. Und die Meinungsfreiheit. Auch, dass hier mehr Gleichberechtigung herrscht. Im Iran bestimmt die Regierung, welchen Job du als Afghane machen sollst. Das ist hier anders.
Wenn du dir deine Zukunft vorstellst: Wie stellst du sie dir vor? Was wünscht du dir?
Amar: Ich habe wirklich nie an die Zukunft gedacht. Das Leben ist mir im Moment wichtiger als die Zukunft. Oder meine Taten von gestern zu bereuen. Nein. Die Zukunft kann entspannt kommen. Was ich heute mache, werde ich morgen vielleicht schon nicht mehr machen können.
*Name von der Autorin geändert
** Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Sprachformen männlich, weiblich und divers (m/w/d) verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.
Fotos: Jamila Forster