Aufbruch aus der Denkroutine

10 min Lesezeit
Grundeinkommen und Schulpflicht Worte Scrabble

„Du gibst die Idee auf, über dich hinauszuwachsen. Du unterwirfst dich nicht länger der Mentalität der Hustle Culture, als wäre die Arbeit dein Leben. In Wirklichkeit ist sie das nicht und dein Wert als Person wird nicht durch deine Arbeit definiert.“ Der Protagonist spricht mit sanfter Stimme, im Hintergrund läuft leise Klaviermusik. Die Kamera wechselt von New Yorks U-Bahn und Wolkenkratzern zu Bäumen und Seifenblasen.

Nur 17 Sekunden dauert dieses im Juli hochgeladene TikTok-Video von Zaid Khan aka zaidleppelin. Es heißt Quiet Quitting. Eine halbe Million Likes sind für ein solches Job-Thema eine bemerkenswerte Resonanz, die bis in die deutsche Presselandschaft hineinreicht.

Eine stille oder innere Kündigung, bei der man Dienst nach Vorschrift macht, ist als Gegenmittel zu übertriebener Leistungserfüllung gedacht. Man geht seiner Arbeitspflicht nach, im engen Rahmen, keine Extras, keine Überstunden. „Das funktioniert am besten, wenn du deinen Job ertragen kannst – wenn du unglücklich bist, dann hau da ab!“ Diesen zusätzlichen Rat gibt Zaid im Chat neben dem Video.

Doch wohin abhauen, wenn die Leistungserwartung quer durch die Gesellschaft extrem hoch ist? Wie einige Monate pausieren, wenn die eigene Existenz nicht gesichert ist?

Bedingungsloses Grundeinkommen

„Wer schon weg, aber noch da ist, gefährdet sich selbst und andere.“ So lautet These 78 unter dem Stichwort Innere Kündigung im Manifest zum Grundeinkommen. 2017 haben Daniel Häni und Philip Kovce darin 95 Thesen kompiliert, welche die Missstände unserer Zeit assoziativ und inspirierend zusammenfassen. „Eine gesunde Work-Life-Balance. Das ist krank. Wir können nicht arbeiten, ohne zu leben. Arbeitszeit ist Lebenszeit.“ So These 39.

Liegt hier eine Möglichkeit, den Druck der Hustle Culture zu überwinden: in einem bedingungslosen Grundeinkommen (BGE)? Einem Existenzminimum, das allen ohne Wenn und Aber von der Wiege bis zur Bahre zusteht? Spätestens seit 2007, als das Buch des Drogeriemarktgründers Götz Werner Einkommen für alle erschienen ist, wird das Konzept auch in der deutschen Öffentlichkeit diskutiert.

Immer wieder trifft der Vorschlag eines BGE jedoch auf die reflexartige Gegenwehr des gesunden Menschenverstands. Ein Einkommen ohne Gegenleistung? Wer soll das denn bezahlen? Außerdem würde dann keiner mehr arbeiten gehen und wir alle vor der Glotze enden. Gehobener ausgedrückt im Gutachten des Finanzministeriums: Das bedingungslose Grundeinkommen gefährde das Subsidiaritätsprinzip und erschüttere die Grundlagen des Sozialsystems.

Doch das Gegenteil könnte der Fall sein. „Das Grundeinkommen ist ja kein zusätzliches Einkommen. Wir haben da nicht alle plötzlich mehr Geld. Das Besondere ist die Bedingungslosigkeit,“ betont Philip Kovce. Die mit hohem Bürokratieaufwand verteilten Transferleistungen wie Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Kindergeld oder Rente würden nach und nach in ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle übersetzt. Ein Spielraum für Eigenverantwortung und Gemeinsinn der Bürger wäre eröffnet.

Experimente und Finanzierungsmodelle

Auf dem Weg, ein solches Grundeinkommen in die Praxis umzusetzen, wurden bereits zahlreiche Experimente durchgeführt. Das bisher größte war die Lotterie in Finnland, die bemerkenswerte Ergebnisse hervorgebracht hat. Es hat gezeigt, dass das Vertrauen in sich selbst und in die Zukunft gestiegen und der Stresspegel gesunken ist.

Solche pars pro toto-Versuche schärfen zwar das Bewusstsein, können allerdings nur Tendenzen der umfassenden Wirksamkeit eines echten BGE aufzeigen. Ein Grundeinkommen kann sich nur als Ganzes entfalten, wenn es allen Bürgern eines Staates zeitlich unbegrenzt zusteht.

Um die Einführung für die gesamte Gesellschaft umzusetzen, bedarf es eines Finanzierungsmodells. Schon seit Langem gibt es hierzu unterschiedliche Vorschläge. Die drei wichtigsten sind das Modell der negativen Einkommensteuer, das der Sozialdividende sowie das der Konsumsteuer. Letzteres würde zudem mit einem kompletten Umbau des Steuersystems einhergehen.

In allen Modellen geht es darum, das Existenzminimum der Bürgerinnen und Bürger bedingungslos zu garantieren und ihnen damit eine Teilhabe an der Gesellschaft zu sichern. Dabei bekommt nicht jeder automatisch einen bestimmten Geldbetrag überwiesen. Das passiert nur in den Fällen, wo wenig oder gar kein Einkommen vorhanden ist. Alle erwerbsfähigen Menschen sollen die Freiheit haben, Nein zu sagen, wenn eine Arbeit ihnen unwürdig oder unzumutbar erscheint.

Arbeiten und Essen

Um dies zu ermöglichen, steht bei den Überlegungen zum Grundeinkommen die Aufhebung der Zwangsehe von Arbeit und Lohn im Zentrum. „Wir müssen den Zwangszusammenhang von Erwerbsarbeit und Existenzsicherung aufbrechen, der aus der Vergangenheit agrarischer Selbstversorgung stammt.“ So bringt es Götz Werner auf den Punkt.

Und doch denkt irgendetwas in uns: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen.“ Eine biblische Ermahnung des Apostel Paulus, aus einer Zeit, als es noch keine Arbeitsteilung gab. Diese Denkroutine sitzt tief.

„Leistung muss sich wieder lohnen!“ Das Diktum Helmut Kohls gegen die vermeintlichen Schmarotzer des Wohlfahrtstaates aus dem Jahr 1982 zeugt noch davon. In einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft, deren Automation rasant fortschreitet, macht dieser anachronistische Leitspruch keinen Sinn mehr. Im Gegenteil: Die blinde Huldigung von Leistung und Leistungsträgern hat uns in die Sackgasse einer Meritokratie geführt.

Auch wenn heutzutage alle essen dürfen, müssen in Not geratene „Arbeitslose“ ihr Essen immer noch beantragen. Dass man ohne Lohnarbeit essen darf, ist keine Selbstverständlichkeit. Die Einführung der Bedingungslosigkeit würde das ändern. Vorbei wären die demütigenden Bittgesuche um Sozialhilfe bei einer absurden Bürokratie. Stattdessen würden alle ein wertschätzendes Einkommen besitzen.

Dies käme in besonderem Maße auch jenen Menschen zugute, die im systemrelevanten Bereich von Hauswirtschaft und Kinderbetreuung gratis arbeiten: Hausfrauen (zunehmend auch -männer), die das Funktionieren einer Volkswirtschaft aus dem Off überhaupt erst möglich machen.

Arbeiten und Tätigsein

Die Angst, dass nach der Einführung des BGE niemand mehr zur Arbeit gehen würde, ist ein weiterer Denkreflex, der vom Mitmenschen zunächst das Schlechteste annimmt: Die anderen Menschen sind faul – ich natürlich nicht. Und überhaupt: Wer will schon auf Auto, Reisen und Technikgadgets verzichten? Grundeinkommen bedeutet angemessener Wohnraum, Essen, Kleidung, Krankenkasse und eine gewisse kulturelle Teilhabe.

Nur wenigen Menschen reicht das zum Leben. Doch wem es reicht, dem eröffnet es neue Freiheiten. Dadurch wäre es leichter, Zwangsverbindungen zu lösen, die aus existentieller Notwendigkeit bestehen. Das gilt für trennungswillige Ehepaare, bei denen es nur ein Einkommen gibt. Ebenso für junge Erwachsene, die in finanzieller Abhängigkeit von ihren Eltern leben müssen. Nicht zuletzt würden sich auch Arbeitnehmer:innen zwangloser an ihrem Arbeitsplatz bewegen, wenn Jobverlust nicht gleichbedeutend mit Existenzverlust wäre.

Neue Lebens- und Arbeitspläne könnten geschmiedet werden, wenn die Existenz für jeden einzelnen bedingungslos gesichert wäre. Dazu gehört auch das Nichtstun im engen, doch geschützten Raum eines Grundeinkommens. Eine Zeitlang mag das für manche eine Option sein und sogar heilsam.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich durch Tätigsein definiert und sich während seiner Lebenszeit entfalten möchte. Wenn wir Arbeiten als Tätigsein verstehen und es unabhängig vom Einkommen denken können, wäre eine „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ mit einem BGE prinzipiell für jeden möglich. So wie es das Grundgesetz in Artikel 2 postuliert.

Dafür ist es nötig, mit veralteten Vorstellungen von Leistung und Belohnung aufzuräumen. Dabei entscheiden wir, wie viel Freiheit wir uns selbst und anderen dauerhaft zutrauen. Es geht um unser Demokratieverständnis. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“, so steht es ebenfalls im Grundgesetz. Ist die Freiheit von materieller Existenzsorge im 21. Jahrhundert Teil dieser Menschenwürde?

Eingang zum Schulhof mit Stacheldraht auf der Mauer

Quiet Quitting in der Schule

Selbstbestimmung und Menschenwürde neu zu definieren, steht nicht nur im Bereich von Lohn und Arbeit an. Die Institution Schule lädt auf gleiche Weise dazu ein, unsere Denkroutinen zu überprüfen. Nur weil wir alle in die Schule gegangen sind, heißt das nicht, dass unsere Kinder und Kindeskinder unter denselben Bedingungen lernen müssen.

Gehen wir noch einmal zurück zu unserem Video von Zaid, dem 24-jährigen Ingenieur aus New York. Wir ändern den Text ein wenig ab und sprechen mit behutsamer Stimme: „Du gibst die Idee auf, in der Schule wirklich etwas zu lernen… Du unterwirfst dich nicht länger dem Leistungsdruck. Schule ist nicht dein Leben und dein Wert als Person wird nicht durch deine Noten definiert.“

Ein solches Video würde von der Schülerschaft sicher gelikt. Schließlich ist die junge Generation dem Unsinn und der Unmenschlichkeit, die das Bildungsmonopol Schule hervorbringt, tagtäglich ausgesetzt. Viele Kinder und Jugendliche haben sich innerlich zurückgezogen und versuchen, mit der Alternativlosigkeit auf die eine oder andere Weise klarzukommen. Doch eine stille Kündigung fällt bei ständigen Prüfungen und Bewertungen schnell auf. Und wird entsprechend geahndet: Erhöhtes Arbeitspensum oder Sitzenbleiben sind nur zwei Beispiele solcher Sanktionen.

Schule schwänzen

Wer gar Zaids Rat befolgt, im schlimmsten Falle abzuhauen („get outta there“), wird in Deutschland bestraft. Dennoch gibt es schätzungsweise 200.000 Schüler:innen, die das jährlich tun: die Schule dauerhaft schwänzen. Schulabsentismus heißt das im wissenschaftlichen Kontext. Leider gibt es kaum Untersuchungen zu diesem Thema.

Letztlich gilt Schwänzen als selbstverschuldetes Verweigern einer gesellschaftlichen Norm. Das absente Klientel ist auf alle Fälle wieder in die Schule zurückzuführen, um nicht lebenslang auf Abwege zu geraten.

Die vorgezeichnete Kriminalisierung gilt auch für Eltern, die ihre Kinder aus unterschiedlichen Gründen nicht in die Schule schicken wollen. Sie werden vom Jugendamt kontrolliert, mit Bußgeldern belegt und bei Nichtzahlung droht Gefängnis.

Der deutsche Schulzwang

Denn in Deutschland gilt, international einzigartig, die Schulpflicht als Schulzwang. Es ist eine Schulhaus-Anwesenheitspflicht. Die Schüler und Schülerinnen können der Schule zwangsweise, notfalls mit Polizeigewalt, zugeführt werden. Das wird in den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer leicht unterschiedlich geregelt. Dennoch ist der Schulzwang in allen Fällen eine bis heute unveränderte Übernahme der Regelung des Reichsschulpflichtgesetzes von 1938 (darin Abschnitt IV§12). Deutschlands Rechtsauffassung von Schulpflicht klebt förmlich am nationalsozialistischen Erbe.

„Nicht nur ist eine gesetzliche Schulpflicht überflüssig geworden, sondern ihre Abschaffung wäre segensreich.“ Das ist das Fazit des vor einem Jahr verstorbenen Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann in seinem Aufsatz von 2003. Über seine eigene These sagt er, dass sie sich zunächst „übertrieben provokativ“ anhöre, da sie „die Institutionalisierung einer flächendeckenden Allgemeinbildung“ aufs Spiel zu setzen scheine.

Er sei sich bewusst, dass sich alles, „was unseren gesunden Menschenverstand gewissermaßen habituell ausmacht“, dagegen sträube, „die Abschaffung der gesetzlichen Schulpflicht auch nur als Möglichkeit ins Auge zu fassen.“ Von den Ergebnissen seiner Untersuchung sei Oevermann daher selbst zunächst „irritiert und überrascht“ gewesen.

Denn er habe feststellen müssen, dass durch die zwanghafte Rahmenbedingung von Schule der Schüler zum „lernunwilligen Monstrum“ verkomme. „Unter der Bedingung der gesetzlichen Schulpflicht wird die Schule ein Analogon zum Arbeitshaus, jedenfalls zu einer disziplinarischen, tendenziell mit einem Kasernenhofdrill vergleichbaren Anstalt.“

Die deutsche Bildungskatastrophe

Schule und Arbeit – zwangsverordnet besitzen diese elementaren Tätigkeitsfelder des heranwachsenden und des erwachsenen Menschen eine vergleichbare Struktur. Was die Kopplung von Arbeit und Lohn sowie ihre mögliche Überwindung durch ein Grundeinkommen angeht, liegen bereits seit vielen Jahren wissenschaftliche und experimentelle Studien vor. Im Bereich der Zwangsehe von Schule und Bildung stehen diese Untersuchungen und eine Modellbildung für die Zukunft noch aus.

Und das, obwohl sich die deutsche Gesellschaft des Handlungsbedarfs schon lange bewusst ist. 1964 schreibt Georg Picht über die „Deutsche Bildungskatastrophe“ und eine damit verbundene mögliche Gefährdung der Demokratie. Zwei Jahrzehnte später unternimmt Günther Schnuer 1986 eine Revision und veröffentlicht „20 Jahre nach Picht – Lehren und Lernen in Deutschland“. 2002 nimmt eine Titelgeschichte des Spiegel das Stichwort wieder auf: „Dumm gelaufen – Die neue deutsche Bildungskatastrophe“. Es sind seitdem wiederum zwanzig Jahre vergangen. Hat sich etwas geändert?

Bildungsrevolution

Angesichts der Missstände in Schule und Gesellschaft nehmen sich mittlerweile viele junge Menschen des Themas Bildung an. „Eine Generation fordert die Bildungsrevolution“ so lautet der Untertitel des 2012 von Bettina Malter und Ali Hotait herausgegebenen Buches Was bildet ihr uns ein? Bei der Performance und Demonstration Bildungsgang thematisieren Schülergruppen in Stuttgart 2017 traumatische Erfahrungen mit Schule medienwirksam in der Öffentlichkeit.

In besonderem Maße bedeuten die Fridays for Future-Demonstrationen seit 2018 eine Selbstermächtigung in Sachen Bildung und Zukunftsgestaltung. Doch sogar bei dieser Umsetzung demokratischer Teilhabe wird die Schülerschaft in Deutschland zuerst wegen der Verletzung ihrer Schulpflicht gerügt.

Warum lassen wir uns nicht von den jungen Menschen inspirieren, die uns die Lügen der Leistungsgesellschaft vor Augen führen? Warum wandeln wir den Schulzwang nicht um in ein attraktives Bildungsangebot, bei dem auch die Unterrichteten ein Mitspracherecht haben? An einen interessant gestalteten Lernort gehen sicher alle gerne – freiwillig und zwanglos.

Außerdem ist Schule genau „der Ort, wo man alle treffen kann“, wie dies Andreas Zick von der Universität Bielefeld formuliert. In einem Interview für die Bundeszentrale für politische Bildung macht der Sozialpsychologe klar, dass Demokratie vor allem erfahrbar und nicht unterrichtbar sei. „Demokratie kann man nicht als Leistung vermessen. Demokratie ist ein sozialer Prozess.“

Neu geprägte Münze für die Demokratie

Interessanterweise ist es Philip Kovce, Mitverfasser des BGE-Manifests und Mitbegründer der Berliner Bürgerinitiative bedingungsloses Grundeinkommen, der sich seit ein paar Jahren auch des Themas Schulpflicht angenommen hat. Er stellt die Analyse Oevermanns zur Diskussion und argumentiert für die Aufhebung des Schulzwangs.

Das ermuntert zu einer weitergehenden Überlegung: Sind Abschaffung der Schulpflicht und Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens vielleicht die beiden Seiten derselben Medaille? Einer neu geprägten Münze für die freiheitliche Demokratie?

Der Druck, der sich in beiden Systemen aus vergleichbaren strukturellen Gründen aufgebaut hat, ist in zunehmendem Maße weder von Kindern noch von Erwachsenen auszuhalten. Der sinnlose Leistungszwang in Schule und Arbeit lässt den Stresspegel steigen und macht krank. Warum springen wir nicht aus dem überhitzten Hamsterrad? Weil es keine Alternative gibt? Oder weil uns das Übel, das wir kennen, lieber ist, als eine Veränderung, deren Ausgang wir nicht genau vorhersagen können?

Lösungen im und am System

Vielleicht gehören wir alle auf die Couch. Zumindest gewinnt man diesen Eindruck, wenn man sich die Kennzeichen einer zwanghaften Persönlichkeitsstörung vor Augen führt: Rigidität, Perfektionismus, Kontrollsucht, Zweifel. Die daraus entspringende Angst vor Fehlern führt dazu, dass die Gestörten gar nichts mehr probieren und kontrollsüchtig im Status Quo verharren. Kommt uns das in Bezug auf unsere gesellschaftliche Verfasstheit irgendwie bekannt vor?

Pragmatische Lösungen innerhalb des Systems zu suchen, ist notwendig und überfällig. Seien es zum Beispiel flache Hierarchien und 4-Tage-Woche im Bereich der Arbeitswelt oder flexible Lerngruppen und projektbezogenes Unterrichten in der Schule.

Doch sollten wir bei den Ansätzen innerhalb des Systems die Stellschrauben von außen, also die Gestaltung der Rahmenbedingungen, nicht vergessen. Der formale Rahmen und die Vorzeichen eines Systems besitzen eine nicht zu unterschätzende Wirkung auf den Inhalt. Wie hatte Marshall McLuhan gesagt: „Das Medium ist die Botschaft.“ Wo Zwang das Medium oder Mittel ist, wird Unfreiheit als Resultat vorprogrammiert.

Die Herausforderungen von guter Arbeit und guter Schule werden zwar durch Grundeinkommen oder Schulpflichtabschaffung nicht automatisch gelöst. Doch könnte mit geänderten, freiheitlichen Vorzeichen ein neuer, zwangloser Denk- und Handlungsraum geschaffen werden. Allein die Vorstellung, ungezwungen in die Schule gehen zu können, mit der Aussicht, dass auch bei vermeintlich „mangelhaften oder ungenügenden“ Leistungen die eigene Existenz bedingungslos gesichert ist, wirkt befreiend.

Krisenbewältigung

Die partielle Entkopplung von Arbeit und Lohn sowie die Umwandlung des Schulzwangs in ein Bildungsangebot würden in jedem Fall viel Druck aus beiden Systemen nehmen. Arbeitswelt und Schulwelt sind in der Krise, schon seit Jahrzehnten. Halbherzige Ansätze führen uns erwiesenermaßen nicht weiter. An die Rahmenbedingungen zu gehen, wäre ein folgerichtiger Schritt.

Routiniert warten wir immer noch ab. Und fordern Reformen. Und verlangen Veränderung. Unsere Denkgewohnheiten wollen wir dabei nicht aufgeben. Doch denen wird es so oder so an den Kragen gehen. Spätestens dann, wenn wir durch soziale Verwerfungen, Migrationsdruck, Pandemien und Klimawandel in noch größere Zwangslagen geraten.

Oder können wir katastrophalen Zuständen zuvorkommen, indem wir etwas wirklich Neues ausprobieren? Die Arbeits- und Lernfreude jedes einzelnen Menschen ist ein viel zu wertvolles Gut, um sie durch sinnentleerte Tätigkeiten auszuhöhlen. Wir können doch beschließen, wie wir arbeiten und wie wir lernen wollen. Wir sind der Souverän, der über staatliche Prioritäten und Vorgehensweisen entscheidet. Noch haben wir die Wahl.

Fotos: Vera Schwamborn