Heute gibt es rund 1,2 Millionen Menschen mit Demenz in Deutschland. Expert*innen von Alzheimer Europe schätzen, dass durch den demographischen Wandel die Zahl der Erkrankten bis 2050 auf etwa 2,7 Millionen ansteigen wird. Es gibt unterschiedliche Arten von Demenz: Alzheimer zählt zu den häufigsten dementiellen Erkrankungen. Betroffene verlieren ihre kognitiven Fähigkeiten, wie zum Beispiel ihren Orientierungssinn und ihr Sprachvermögen.
Filme schaffen Öffentlichkeit
Inzwischen schlagen sich die steigenden Zahlen der an Demenz Erkrankten auch in der Literatur und im Kino nieder: Eine Reihe an Erfahrungsberichten, Romanen, Dokumentationen und fiktionalen Filmen sind in den letzten Jahren erschienen. 2015 gewann Julianne Moore für ihre Darstellung einer an Alzheimer erkrankten Professorin in dem Film “Still Alice” den Oscar. In ihrer Oscar-Rede äußerte sie die Hoffnung, dass die Krankheit durch Filme mehr Öffentlichkeit bekäme und so hoffentlich der Druck bei der Suche nach Heilungsmöglichkeiten steige.
Filme können die Aufmerksamkeit für das Thema Demenz seitens Politik und Gesellschaft erhöhen. Sie tragen dazu bei, die Krankheit und was sie für Betroffene und Angehörige bedeutet, besser zu verstehen. Parallel zur Suche nach Heilungsmöglichkeiten müsste sich die Betreuungssituation verbessern. Angehörige, Pflegekräfte, Ehrenamtliche und Freund*innen, die mit der Pflege von Erkrankten zu tun haben, sind oft über ihre Grenzen hinaus beansprucht.
Diesen Sommer gab es gleich zwei Premieren von Filmen, die sich mit Demenz auseinandersetzen: das Regiedebüt des Schauspielers Viggo Mortensen “Falling” und “The Father” von Florian Zeller. Beide machen deutlich, wie sich die Überforderung mit der Erkrankung auf Familienangehörige und das Umfeld des an Demenz Erkrankten auswirkt. Eine weitere Gemeinsamkeit der Filme ist: Im Zentrum stehen demente Patriarchen.
Ohne Boden unter den Füßen
Falling, “Fallen”: So ließe sich der Zustand der von Demenz Betroffenen beschreiben. Ein Bild dafür, dass ihnen der Boden unter den Füßen weggenommen wird, der sichere Hafen der sprachlichen Artikulation nicht mehr angesteuert werden kann und die Orientierung in Raum und Zeit brüchig wird.
Ich frage mich beim Zusehen: Wie hält er das nur so lange aus? John – gespielt von Viggo Mortensen, der die Hauptrolle spielt und das Drehbuch und die Filmmusik geschrieben hat – nimmt seinen demenzkranken, verwitweten Vater Willis bei sich und seiner Familie in Kalifornien auf. Die idyllisch-diverse heile Welt von John, seinem chinesisch-stämmigen Ehemann Eric und der adoptierten Tochter wird von den Launen des tyrannischen, aggressiven, rassistischen Vaters, der stets einen homophoben Spruch auf Lager hat, ins Wanken gebracht.
Löchrige Erinnerung
Die Familiendynamiken sind psychologisch präzise: „Falling“ ist nicht linear erzählt, sondern die Jetzt-Zeit wechselt mit Rückblenden ab. Die Demenzerkrankung wird so filmisch eingefangen: die Erinnerung ist ein Flickenteppich, von dem einzelne Fetzen aufleuchten, die nicht immer schlüssig zusammengefügt werden können.
In “Falling” verhandeln die Rückblenden jedoch nicht nur die verschwimmende Wahrnehmung, mit der der Vater konfrontiert ist, sondern auch, wie der Sohn aus Erinnerungen das Bild seiner dysfunktionalen Familie neu zusammensetzt: Wie liefen bestimmte Situationen dieser schwierigen Kindheit ab, mit der kleinen Schwester, dem autoritären Vater, der unglücklichen, respektlos behandelten Mutter? Wir sehen den jungen Vater Willis, wie er zum autoritären, bösartigen Einzelgänger wird. In seiner konservativen Männlichkeit gefangen, verliert er mehr und mehr die Fähigkeit zu kommunizieren.
Wie gehe ich mit meinen Eltern um, nach all den Brüchen und Verletzungen, die es in der Vergangenheit gab? Gerade, wenn sie durch eine Krankheit nicht mehr fähig sind, sich um sich selbst zu kümmern und auf mich angewiesen sind? Sich abwenden oder vergeben?
Mit Schweigen und Themenwechsel versuchen die Protagonisten die Attacken zu übergehen: Kaum auszuhalten und etwas unglaubwürdig ist, dass John, sein Mann Eric und auch Johns Schwester die verbalen und physischen Tiraden so lange stoisch erdulden, bis sich Johns Emotionen plötzlich entladen. Gleichzeitig zeigt der Film, wie unterschiedlich die Umgangsweisen mit dem dementen Vater sind, wie unterschiedlich das Umfeld eines an Demenz Erkrankten reagiert.
Der stolze Vater
Anders als in „Falling“, wo die Demenzerkrankung von Willis schon weit fortgeschritten ist, schleichen sich die Symptome in “The Father” erst allmählich in den Alltag ein. Florian Zellers Verfilmung seines eigenen Theaterstücks “Le Père” (Der Vater) hat in den Hauptrollen Anthony Hopkins (Anthony) und Olivia Colman (Anne). Anne macht sich große Sorgen um ihren Vater Anthony. Sein Gedächtnis lässt ihn immer häufiger im Stich, doch aus Stolz lehnt er jegliche Hilfe durch eine Pflegekraft ab. Unter keinen Umständen möchte er in eine betreute Einrichtung.
Anthonys Gemütszustände wechseln innerhalb von Augenblicken. Anne ist hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung, Optimismus, Hass und Liebe. Sie muss mit der Erkrankung ihres Vaters zurechtkommen, und sich gleichzeitig vor ihrem nicht allzu verständnisvollen Ehemann rechtfertigen. Sie will ihren Vater nicht im Stich lassen und doch ein eigenes Leben zu führen. Diese beiden Dinge unter einen Hut zu bekommen, wenn der an Demenz erkrankte Vater in der gleichen Wohnung haust, erscheint schier unmöglich.
Wo war nochmal meine Uhr?
Hauptspielort ist eine Londoner Wohnung. Ob es Anthonys oder Annes Wohnung ist, bleibt unklar. Allmählich verändern sich dort Dinge: Bilder hängen nicht mehr an der Stelle wo sie einmal waren, die Armbanduhr ist nicht mehr an ihrem Platz, Darsteller*innen werden ausgetauscht. Oder bilde ich mir das alles nur ein? Zwischen den Alltagsszenen klaffen logische Lücken. Zeller baut eine labyrinthische Handlung und nicht nur die Figuren verlieren den Überblick darüber, was real ist.
Als Zuschauerin gehe ich auf wackeligem Boden: Ich versuche eine stringente Handlung zu bauen und scheitere. Die Erfahrung der Verunsicherung in einer aus den Fugen geratenen Welt wird durch die unzuverlässige Erzählweise direkt auf die Zuschauer*innen übertragen. Damit spielt der Film mit der Erfahrung, die das Umfeld von dementen Menschen macht. Bisweilen fühlen sie sich verwirrter als die Betroffenen selbst. Demente Menschen nehmen das, was sie sehen oder hören als Realität wahr und zweifeln es zunächst nicht an. Verwirrend wird es für sie erst dann, wenn man sie auf ihren Irrtum aufmerksam macht. Dann behaupten sie das Gegenteil und es beginnt ein Streit darum, wer Recht haben könnte. Was später folgt, ist der Zweifel an der eigenen Wahrnehmung. Und die Verzweiflung darüber. Bis in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung alle kognitiven Fähigkeiten versagen.
Beide Filme versuchen Demenz durch die Stilmittel der Verfilmung wie die Rückblenden und einer inkohärente und unzuverlässige Erzählweise formal zu reflektieren und so für uns besser nachvollziehbar zu machen. Das unlösbare Problem dabei ist, dass man versucht, von einer Entwicklung zu erzählen, die nach den Maßstäben einer Kultur, die stets vorwärts oder aufwärts strebt, keine ist. An derem Ende das Schweigen steht.
Weitere Beiträge von Julia Salzmann: