Nicolas Humberts Film „Wild Plants“ entführt uns in eine neue Beziehungskultur zwischen Menschen und Pflanzen. Im Mittelpunkt des poetischen Dokumentarfilms steht der Kompost als konkreter Arbeitsort und Sinnbild von Transformation.
Statt mit Zahlen, Fakten und Wissenschaft zieht uns „Wild Plants“ mit einem Reigen von Bildern und Geschichten in seinen Bann. Cutterin Simone Fürbringer hat diesen Reigen als ebenbürtige Mitschöpferin aus dem gedrehten Material komponiert. 2017 kam das Film-Poem in die Kinos.
Der Film führt uns durch alle vier Jahreszeiten. Er beginnt und endet im Winter, wenn es still ist und die Erde ruht. Als erster erscheint ein Hund. Er kratzt und leckt an einer Eisdecke. Dann läuft und springt er darüber, bis das Eis hinter ihm splittert und aufbricht.
In langen Einstellungen wie diesen verdichtet „Wild Plants“ sinnliche Eindrücke zu symbolischen Deutungen. Es geht um die Geschichte und Zukunft unserer Zivilisation. Ihr Wesen erscheint beiläufig in der Ödnis einer nächtlichen Stadtautobahn mit hell erleuchteter Tankstelle. Vogelschwärme und Güterzüge, Industrie-Brachen und Gewitterregen eröffnen eine Bühne: Vorhang auf! Eine Gardine bauscht sich in den leeren Fensterstöcken eines verfallenden Wohnhauses in Detroit. Blühende Unkräuter triumphieren über die Versiegelung. Glühwürmchen schwärmen durch die Nacht.
Harte Arbeit und Zeit für ein Gedicht
Die Kamera verweilt lange auf den Gesichtern der Protagonisten. Was berührt an ihnen? Ihr Schweigen? Ihr ruhiger und geradliniger Blick? Im Film „Wild Plants“ kommen Heldinnen und Helden neuer Art zu Wort. Sie stehen für eine kulturelle Transformation, die sich weitgehend unauffällig und lautlos abspielt.
Das Paar Andrew und Kinga bewirtschaftet in der verfallenden Industriestadt Detroit einen Gemüse- und Kräutergarten. Sie halten Bienen, hacken Brennholz aus gefällten Friedhofsbäumen und ernten Birnen in den Gärten abgerissener Häuser. Harte Arbeit prägt ihren Alltag, besonders im Sommer. Im Winter haben sie dafür Zeit Gedichte zu lesen oder ein Buch zu schreiben. Beim Kompostschaufeln und Samentrocknen erzählen sie von ihren Erfahrungen.
Zum Beispiel von Andrews Schüler*innen, die Obst von verwilderten Gartenbäumen für dreckig und ungenießbar halten, weil es nicht aus dem Supermarkt stammt. Eines Tages nimmt Andrew sie in den großen Park des Friedhofs mit – unter dem Vorwand dort das literarische Schreiben zu üben. Zu seiner Freude bemerkt er, dass die Jugendlichen beginnen diesen Ort von selbst aufzusuchen, um sich dort zu treffen.
Die tägliche Arbeit im Garten und mit dem Kompost hat die Beziehung des Paars zu Altern und Tod verändert. Für Kinga rückt der frühe Tod ihrer Mutter in ein anderes Licht. Andrew sagt: „Ein Garten ist nicht einfach für’s Gemüse da. Wenn ich den Kompost verteile, fühle ich mich als Teil eines Kreises von Leben und Tod, der kein Ende hat. Es kommt einer religiösen Erfahrung am nächsten.“
Eine Beziehung eingehen zu einem Stück Land
Seit der Gegenkultur der 60er Jahre gelten Angehörige der First Nations als Propheten eines respektvollen Umgangs mit der natürlichen Welt. In dieser Tradition steht der Film „Wild Plants“: Wir sehen den alten Indianer Milo Yello Hair auf einer Hochebene des Lakota-Reservats, auf der Pferde frei herumstreifen und nachts die Lichter einer Siedlung blinken.
Das ist hart am Klischee vorbeigeschrammt, aber der alte Mann im T-Shirt mit den glimmenden Kräutern in der Hand ist einfach unwiderstehlich. Milo strahlt die Überzeugung aus, dass seiner indigenen Weltsicht die Zukunft gehört. Er nimmt sich Zeit zu singen, zu beten und zu räuchern. Wenn man alt ist und mit sich im Reinen, darf man Jüngere ermutigen und Erfahrungen weitergeben: „Habe keine Angst dein Leben zu leben. Wenn du zu einem Stück Erde eine Beziehung eingehst, dann wird sein Lied in dir singen.“
Der Rücken schmerzt, der Kopf bleibt frei
Neben Einzelgestalten und einem Paar präsentiert der Film „Wild Plants“ auch eine Kooperative junger Bio-Gemüsegärtner*innen. Sie leben an der französisch-schweizerischen Grenze. Wir sehen sie gemeinsam zur Ernte ausziehen oder geduldig Unkraut im Regen jäten. Ein junger Gärtner mit gepiercter Augenbraue richtet sich auf und macht eine Übung für seinen schmerzenden Rücken. „Wenn ich Lauch ernte, hält mich das in Bewegung“, sagt er. „Und mein Kopf bleibt frei für meine Gedanken.“
Was die Kooperative nervt, ist nicht das Wetter, sondern die Flugzeuge, die im Steigflug über ihre Äcker dröhnen. Ein junger Mann ist froh, Formen von Arbeit entkommen zu sein, die er abstrakt findet und die ihn vor dem Bildschirm fixieren. „Hier kenne ich die Leute, die unser Gemüse essen und es wird wertgeschätzt“. Zu ihren Kunden aus der Stadt pflegen die Gärtnerinnen und Gärtner persönliche Beziehungen. Die Kunden kommen auf den Hof und können an der Feldarbeit teilnehmen.
Einer der Gründer der Kooperative spricht über die Frustration vieler Städter, keinen Kontakt mehr zur Landwirtschaft zu haben: „Der Markt hat nichts für Leute, die einen tieferen Sinn suchen.“
Der Blumenrebell von Zürich
Gegen Ende erscheint ein älterer Mann mit Samentüten, der nachts allein durch die Straßen von Zürich streift. Mit einem Wurzelstecher hackt er kleine Löcher und Rillen zwischen die Wurzeln von Stadtbäumen, in sterile Seitenstreifen und kahle Verkehrsinseln. Dort sät er Samen blütentragender Pflanzen hinein, überwiegend Pionierpflanzen, deren Vegetationszyklus nur ein Jahr beträgt.
Dank Regen und Sonne sprießen nach ein paar Wochen Pflanzen, die als „Unkräuter“ gelten, aber auch Stockrosen, Bohnen und Kürbisse. Der anonyme urbane Gärtner ist der Anarchist und ehemalige Hausbesetzer Maurice Maggi.
In dreißig Jahren Guerilla Gardening hat er das Antlitz seiner Stadt verändert: „Die Pionierpflanzen sind meine besten Lehrer gewesen. Auf kargstem Boden bereiten sie anderen Pflanzen und letztlich dem Wald den Weg. Aus der Nische heraus verändern sie das kompakte Ganze.“
Der Film „Wild Plants“ vermittelt die Botschaft, dass der Sinn des Lebens im Marginalen liegt. Auf berückende Weise wertet der Film um, was in unserer Zivilisation gering geschätzt wird. Er spinnt neue Mythen, das heißt Held*innengeschichten, um verrottende Komposthaufen. Um körperliche Arbeit, die dreckig und müde macht, um die subversive Kraft von Unkräutern. Die Natur bietet uns überall einen Co-working-space an – und sei es der geringste Spalt zwischen Asphalt und Beton. Wir müssen ihre ausgestreckte Hand nur ergreifen.
Weitere Beiträge von Hanna Lauterbach:
Bäume auf 17 Prozent der Ackerfläche sorgen für Regen. Interview mit dem Agroforst-Pionier Sepp Braun
Für die klimarettende Agrarwende: Agroforstwirtschaft endlich auch in Bayern fördern! Kommentar zur Agroforst-Politik der Bayerischen Staatsregierung
Glücksmomente und Zukunftsangst. Portrait der Initiatorin von Fridays for Future München, Antonia Messerschmitt