Van Gogh Alive: Ein Erlebnis der besonderen Art

Impressionist und Illusionist: Vincent van Gogh. Ein Künstler wie kein Anderer, mit einer Schaffenskraft, die zeitweise nicht endlich schien. Seinen Meisterwerken wird mit „Van Gogh Alive“ jetzt neues Leben eingehaucht.

Große Stahlträger halten das Dach des Utopia an der Heßstraße in Schwabing. Im Inneren der ehemaligen Reithalle knallt rustikales Flair auf meterhohe Wände in knalligem Gelb – Vincent van Goghs Lieblingsfarbe. Das ist kein Zufall, denn hier findet derzeit „Van Gogh Alive“ statt: Eine Ausstellung, die Multichannel-Motion-Grafik, Surround-Sound in Kinoqualität und hochauflösende Projektoren miteinander kombiniert. Ziel der Veranstalter ist es, den Begriff einer Ausstellung neu zu definieren, indem alle Sinne angesprochen und so der Horizont der Besucher erweitert werden soll.

Unwillkommene Überraschung

Beim Betreten der Ausstellung ist auf den ersten Blick der cleane Raum ernüchternd, schließlich werden online als Vorschau beeindruckende Lichtinstallationen gezeigt, die ein aufregendes Erlebnis versprechen. Hier jedoch ragen meterhohe weiße Wände auf, an denen Kunstdrucke von Van Goghs Gemälden in chronologischer Reihenfolge angeordnet sind. Seine Geschichte wird anhand der bekanntesten Werke erzählt. Sie beginnt bei seinem Leben vor der Entdeckung seiner künstlerischen Ader, geht weiter zum ersten Werk, endet mit seinem Tod – Stop, sein Tod, gleich nach dem ersten Werk? Da fehlt doch was!

Ausstellungen sind meist so konzipiert, dass Besucher unbewusst und intuitiv von einem Bild zum nächsten schreiten. Ist das nicht der Fall, gibt es in der Regel einen Hinweis darauf: nicht so bei „Van Gogh Alive“. Hier beginnen sowohl Kunstkenner als auch Laien bei den Anfängen und schreiten direkt zum Tod. Das fällt nicht direkt auf, da Van Goghs erstes Werk auf perspektivisch beeindruckende Art und Weise wie ein Bühnenbild, zwischen der Ausstellungseinführung und der Schilderung seines Tods, aufgebaut ist. So fällt die falsche Reihenfolge erst auf, wenn das Ende seiner Geschichte erreicht und die letzten Werke betrachtet wurden. Peinlich berührt wandern also die, welche es bemerken, quer durch den Raum zu dem eigentlichen Start. Andere sehen sich die Ausstellung ohne nachzudenken in falscher Reihenfolge an.

Das Ausstellungskonzept

Wenn man nach einiger Zeit Aufenthalt endlich herausgefunden hat, wie man sich als Besucher im ersten der beiden Ausstellungsbereiche eigentlich bewegen soll, taucht man von Bild zu Bild immer tiefer in die Lebensgeschichte Van Goghs ein. Dabei kommt man dem ein oder anderen in die Quere, der den richtigen Weg noch nicht gefunden hat.

Das Konzept an sich ist aber toll: Allgemeine Informationen, wie Maße, Technik und Schaffungsjahr der Bilder, ergänzen die Geschichte Van Goghs, sowie die Interpretation seiner Werke. Als passionierter Museumsgänger vermisst man hier vielleicht die Information, in welchen Museen und Galerien die Werke im Original zu sehen sind. Schließlich ist es ein gern geführtes Gesprächsthema, das Besichtigen eines der Bilder mit dem nächsten Urlaub zu kombinieren – was, wie böse Zungen behaupten würden, sowieso nie passiert. Trotzdem wäre die Information eine nette Ergänzung. Aber so viel nur als Randnotiz. Im Großen und Ganzen sind die Inhalte zu den Werken gut verständlich geschrieben und die wichtigsten Informationen finden größten Teils Beachtung.

Kunstaustellung neu interpretiert

Wer nach dem Rundgang beim Tod Van Goghs angelangt ist, wandert wieder quer durch den hallenartigen Raum in Richtung Ausgang, zu der „Multisensorischen Erzählung“, wie die digitale Installation von Van Goghs Werken hier genannt wird. Eine Komposition aus Düften, welche die Besucher in die üppigen Gärten, weiten Felder und saftigen Wiesen, wo Vincent van Gogh einst seine zeitlosen Meisterwerke schuf, entführen soll, erwartet einen hier. Mit FFP2-Maske ist das Duftwunder leider schwer zu erleben, was aber der vor Corona konzipierten Veranstaltung nicht angelastet werden kann.

Jedoch macht die Installation, welche abermals auf meterhohe weiße Wände projiziert wird, das locker wieder wett. Perspektivisch skurril aufgebaut, wie seine illusionierten Werke – vermeintlich falsch, aber doch harmonisch. Von Sitzsäcken und Stühlen aus können die kraftvollen, größtenteils impressionistischen Werke genossen werden. Die Atmosphäre hat etwas Beruhigendes, fast Einschläferndes. Die ausdrucksstarken impressionistischen Werke werden unterstrichen durch dramatische, fast sehnsüchtige Musik, wie: „Carnival of the Animals: VII. Aquarium“ oder „Lakmé, Act I: Flower Duet“. Man taucht abermals ein in die wundervolle illusionierte Welt des Künstlers.

Blickt man sich um, spiegelt sich die Vielfalt der Werke auch in den Besuchern wider: Der Familienvater, der im Hemd vermutlich direkt von der Arbeit zu der Ausstellung geeilt ist und in einem vermeintlich unbeobachteten Moment seine Mails checkt. Vor ihm seine Kinder, die stets ihr Smartphone parat halten, um schnell die perfekte Szene für ihre Insta-Story abzufilmen. Daneben die Mutter, welche die ruhigen Minuten genießt. Von Gruppen über Pärchen bis hin zu Freunden: Egal ob jung, alt, gemeinsam oder allein, hier ist alles vertreten und jeder ist fasziniert von der Melancholie Van Goghs.

Altes neu interpretiert

In „Van Gogh Alive“ treffen frühe sowie späte Werke aufeinander und werden durch die Installation auf moderne, neue Weise interpretiert. Animierte Blütenblätter, die es über eines seiner bekanntesten Werke, „Blühender Mandelbaum“ wirbelt, treffen auf Landschaftsmalereien, in denen durch zahlreiche 3D-Animationen ebenso viel Bewegung liegt, wie in den wilden Pinselstrichen Van Goghs.

Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es aber doch kein großes Ganzes ist, sondern eher viele einzelne Momente, die auf verdrehte Art und Weise harmonisieren: eigentlich ganz entsprechend den Höhen und Tiefen von Van Goghs Gemütslagen und Leben selbst. Idyllische französische Prärie trifft auf schwermütige Krise. Selbst Laien erkennen hierbei Van Goghs Stil, ohne dass er zuvor textlich hervorgehoben wurde. Kleine Pinselstriche, klitzeklein, wie sie vielleicht nur ein Verrückter inszenieren kann – ein Kunstverrückter. Symphonien aus Blumen, vereint mit verspielter Musik, laden fast zum Mitwippen ein. Die Stimmung passt sich stets den Werken an, man ist gefangen in Van Goghs Illusionen, möchte nichts verpassen und alles in sich aufsaugen.

Gegenteil, aber doch ein Teil davon

Aber nicht nur die bekannten impressionistischen Werke des Künstlers sind Teil der Erfahrung, sondern ebenso andere Schaffensphasen, bestehend aus japanischem Stil und klaren Linien. Diese Bilder muten grafisch an, das Gegenteil seiner impressionistischen, weltbekannten Gemälde. Eine Überraschung, mit der man so nicht gerechnet hat.

Fazit

Die Ausstellung „Van Gogh Alive“ hat etwas Trauriges, Dunkles, Sehnsuchtsvolles, aber gleichzeitig auch Verheißendes, Leichtes, Glückliches an sich. Ebenso wie die Gemütszustände Van Goghs selbst. Der Begriff einer Ausstellung wird vielleicht nicht neu definiert, wie von den Veranstaltern versprochen, jedoch inhaltlich auf eindrucksvolle Weise erweitert.

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